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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu
Autoren: Paul Auster
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lebenslang sichtbares Zeichen seiner Transformation trug.
    Aber als er nach Brooklyn zurückkehrte und seiner Mutter stolz die neue Zier zeigte, platzte Mrs. Gurevitch vor Wut und begann zu toben und zu heulen. Nicht nur die Tätowierung selbst brachte sie so aus der Fassung (obwohl diese wesentlichen Anteil daran hatte, wenn man bedenkt, daß nach jüdischem Recht Tätowieren verboten ist - und ferner bedenkt, welche Rolle das Tätowieren jüdischer Haut in ihrem Leben gespielt hatte), sondern auch das, wofür diese Tätowierung stand; und da Mrs. Gurevitch in dem dreifarbigen Weihnachtsmann auf Willys Arm ein Zeichen des Verrats und des endgültigen Wahnsinns sah, war ihr Ausbruch durchaus verständlich. Bis dahin hatte sie sich noch weismachen können, daß ihr Sohn sich wieder völlig erholen würde. Sie hatte den Drogen die Schuld an seinem Zustand gegeben, und wenn die Schadstoffe erst aus seinem Körper geschwemmt waren und sein Blutbild sich normalisiert hatte, so hatte sie gehofft, würde es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis er den Fernseher ausschaltete und wieder aufs College ging. Damit war es nun vorbei. Ein Blick auf die Tätowierung, und all ihre trügerischen Hoffnungen und Erwartungen zerschellten zu ihren Füßen wie Glas. Der Weihnachtsmann gehörte zur Gegenseite, zu den Presbyterianern und Katholiken, zu den Jesusanbetern und Judenhassern, zu Hitler und all den anderen. Die Gojim waren in Willys Hirn eingedrungen, und wenn die erst in einem drinsteckten, ließen sie nie wieder von einem ab. Weihnachten war erst der Anfang. In ein paar Monaten war Ostern, und dann würden sie wieder ihre Kreuze hervorholen und Mord und Totschlag predigen, und schon trat einem die SS die Tür ein. Sie sah das Bild des Weihnachtsmanns auf dem Arm ihres Sohnes prangen, aber in ihren Augen hätte es genausogut ein Hakenkreuz sein können.
    Willy war völlig perplex. Er hatte keinerlei böse Absicht gehegt, und das letzte, was er in seinem seligen Zustand der Zerknirschung und Läuterung wollte, war, seine Mutter zu beleidigen. Doch er konnte sich den Mund fusselig reden, sie hörte einfach nicht zu. Sie schrie ihn an und schimpfte ihn einen Nazi, und als er darauf beharrte, daß der Weihnachtsmann eine Inkarnation Buddhas sei, ein Heiliger, welcher der Welt die Botschaft von der barmherzigen Liebe bringe, drohte sie, ihn umgehend wieder ins Krankenhaus einweisen zu lassen. Das rief Willy einen Satz ins Gedächtnis, den er von einem Leidensgenossen im Saint Luke’s Hospital gehört hatte: »Lieber Schnaps aus braunen Tüten, als einsam in der Klapse brüten«, und plötzlich wußte er, was ihn erwartete, wenn seine Mutter ihren Willen bekam. Statt ihr also weiter wie einer kranken Kuh zuzureden, zog er lieber seinen Mantel über, verließ die Wohnung und machte sich schnurstracks auf den Weg weiß Gott wohin.
    So spielte sich über die Jahre ein gewisser Rhythmus ein: Willy blieb ein paar Monate bei seiner Mutter, verschwand dann für ein paar Monate und kehrte schließlich wieder zurück. Sein erster Ausflug war wahrscheinlich der dramatischste, weil Willy nicht die leiseste Ahnung vom Wanderleben hatte. Er blieb nur kurze Zeit fort, und obwohl Mr. Bones nie genau wußte, was Willy mit kurz meinte, schienen ihm die Erlebnisse seines Herrchens in jenen Wochen oder Monaten, in denen er fort gewesen war, Beweis genug zu sein, daß Willy seine wahre Berufung gefunden hatte. »Erzähl mir nicht, daß zwei und zwei vier ist«, sagte Willy zu seiner Mutter, als er nach Brooklyn zurückkam. »Woher wissen wir überhaupt, daß zwei wirklich zwei ist? Das ist doch die eigentliche Frage.«
    Am nächsten Tag setzte er sich hin und schrieb wieder. Es war das erste Mal seit der Zeit vor dem Krankenhaus, daß er wieder einen Stift zur Hand nahm, und die Worte flössen aus ihm heraus wie Wasser aus einem gebrochenen Rohr. Willy G. Christmas entpuppte sich als besserer und inspirierterer Dichter, als William Gurevitch je gewesen war, und was seinen frühen Arbeiten an Originalität fehlte, machten sie durch ungebremsten Enthusiasmus wett. Seine Dreiunddreißig Lebensregeln waren ein gutes Beispiel dafür. Die ersten Zeilen lauteten folgendermaßen:
     
    Wirf dich der Welt in die Arme,
    Und die Luft wird dich tragen. Halt dich zurück,
    Und die Welt wird dich hinterrücks anspringen.
    Riskier den Bankrott auf der Straße der Knochen.
    Folg der Musik deiner Schritte,
    und wenn die Lichter ausgehen,
    Pfeif nicht - sing.
    Hältst du
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