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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu
Autoren: Paul Auster
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Aufenthalt in der aufgelassenen Bettenfabrik vor zwei Jahren. Oder an Greta, die läufige Hündin, mit der er es außerhalb von Iowa City zehn Tage lang in einem Maisfeld getrieben hatte. Oder an jenen irren Nachmittag in Berkeley vor vier Jahren, als Willy auf der Telegraph Avenue achtundsechzig Fotokopien eines Gedichtes für einen Dollar das Stück verkauft hatte. Es hätte Mr. Bones unendlich gutgetan, wenn er einiges davon noch einmal hätte erleben können, wenn er noch einmal vor Beginn des Hustens mit seinem Herrchen hätte Zusammensein können - letztes Jahr noch, ja sogar vor neun oder zehn Monaten oder bei dieser fetten Schlampe, mit der sich Willy eine Weile zusammengetan hatte - Wanda, Wendy oder wie auch immer -, diesem Mädchen aus Denver, das hinten in seinem Kombi gehaust und ihn mit hartgekochten Eiern gefüttert hatte. Die war vielleicht ein Knaller gewesen, eine unflätige, versoffene Dickmadam, die immer zuviel lachte, ihm den weichen Bauch kraulte und dann, wenn sein kleiner rosa Hundepimmel ausfuhr (nicht daß es Mr. Bones gestört hätte, wohlgemerkt), in noch brüllenderes Gelächter ausbrach und vor Lachen so außer sich geriet, daß ihr Gesicht in fünfzehn verschiedenen Rottönen erglühte. In der kurzen Zeit, die sie bei ihr verbrachten, wiederholte sich dieses kleine Lustspiel so oft, daß Mr. Bones nur das Wort »Denver« zu hören brauchte, und schon klang ihm Wandas Lachen wieder in den Ohren. Das Lachen war für ihn Denver, so wie Chicago ein Bus war, der auf der Michigan Avenue durch eine Regenpfütze fuhr, Tampa eine Wand aus Licht, die eines Augustnachmittags über dem Asphalt flimmerte, und Tucson ein heißer Wüstenwind, der den Duft von Wacholder und Beifuß herbeitrug, die jähe, unirdische Fülle der reinen Luft.
    Mr. Bones versuchte, sich auf eine dieser Erinnerungen zu konzentrieren, sie einen Augenblick lang zu genießen, während sie an ihm vorüberzogen, aber es hatte keinen Zweck. Ständig kehrte er in Gedanken in die Wohnung nach Brooklyn zurück, zu der Langeweile, dort bei kaltem Wetter eingesperrt zu sein, zu Momsan, die in ihren flauschigen weißen Hausschuhen durch die Zimmer schlappte. Er konnte gar nicht anders, als dort zu verweilen, ging ihm auf, und als er sich schließlich dem Sog dieser endlosen Tage und Nächte ergab, wurde ihm klar, daß er in die Glenwood Avenue zurückgekehrt war, weil Mrs. Gurevitch tot war. Sie hatte diese Welt hinter sich gelassen, wie auch ihr Sohn es bald tun würde, und indem Mr. Bones zu diesem ersten Tod zurückkehrte, bereitete er sich zweifellos seelisch auf den nächsten vor, auf den Tod aller Tode, der das Unterste zuoberst kehren und seine Welt vielleicht für immer zerstören würde.
    Der Winter war stets die Zeit dichterischer Freiheit gewesen. Wenn er zu Hause war, arbeitete Willy nachts, und meistens fing er mit dem Tagwerk erst an, wenn seine Mutter zu Bett gegangen war. Beim Leben auf der Straße kam intensive Schreibarbeit nicht in Betracht. Das Tempo war zu schnell, der Geist zu flüchtig, die Ablenkung zu groß für mehr als eine schnell hingekritzelte Notiz, eine auf eine Papierserviette geworfene Formulierung. Aber in den Monaten, die er in Brooklyn verbrachte, arbeitete Willy jede Nacht drei, vier Stunden am Küchentisch und schrieb seine Verse in große Spiralhefte. Jedenfalls dann, wenn er nicht irgendwo soff oder zu deprimiert war oder ihn die Eingebung verlassen hatte. Manchmal murmelte er beim Schreiben vor sich hin, probierte den Klang der Wörter aus, die er zu Papier brachte, und dann und wann verstieg er sich gar dazu, zu lachen oder zu knurren oder mit der Faust auf den Tisch zu schlagen. Erst hatte Mr. Bones geglaubt, diese Äußerungen seien an ihn gerichtet, doch nachdem er mitbekommen hatte, daß sie zum schöpferischen Prozeß gehörten, war er damit zufrieden, sich unter dem Tisch zusammenzurollen, zu Füßen seines Herrchens zu dösen und auf den Augenblick zu warten, wenn die Nachtarbeit geschafft war und sie beide hinausgingen, damit er sein Geschäft verrichten konnte.
    Aber nicht alles war nur Trägheit und Müßiggang gewesen, oder? Selbst in Brooklyn hatte es lichte Momente gegeben, Ablenkung von der literarischen Knochenarbeit, zum Beispiel vor achtunddreißig Jahren nach dem Hundekalender die Symphonie der Gerüche, jenes einzigartige, leuchtende Kapitel in Willys Annalen, als einen ganzen Winter lang nicht ein Wort geschrieben wurde. Was für eine Zeit, sagte sich Mr. Bones, eine
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