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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu
Autoren: Paul Auster
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wunderschöne, verrückte Zeit, und allein die Erinnerung daran ließ seinen ganzen Körper vor Nostalgie erschauern. Wenn er hätte lächeln können, hätte er jetzt gelächelt. Wenn er hätte Tränen vergießen können, hätte er welche vergossen. Ja, wenn es ihm möglich gewesen wäre, hätte er zugleich gelacht und geweint und sein Herrchen, das nun bald von ihm gehen würde, gefeiert und betrauert.
    Das mit der Symphonie ging auf die frühen Tage ihres gemeinsamen Lebens zurück. Sie hatten Brooklyn zweimal verlassen, waren zweimal nach Brooklyn zurückgekehrt, und in dieser Zeit hatte Willy eine heftige, tiefe Zuneigung zu seinem vierbeinigen Freund gefaßt. Nicht nur, daß er sich nun beschützt fühlte und froh war, jemanden zum Reden zu haben, oder daß es tröstlich war, sich des Nachts an einen warmen Körper kuscheln zu können. Nach all den in so enger Gemeinschaft verbrachten Monaten mit dem Hund hatte Willy auch befunden, daß Mr. Bones durch und durch gut war. Er wußte nicht nur, daß der Hund eine Seele hatte, er wußte, daß diese Seele besser war als so manche andere, und je genauer er sie studierte, desto mehr Noblesse und Edelmut entdeckte er darin. War Mr. Bones ein Engel in Hundegestalt? Willy glaubte fest daran. Nach achtzehn Monaten genauester prüfender Beobachtung war er sich sogar ganz sicher. Wie sonst sollte er den göttlichen Witz interpretieren, der ihm Tag und Nacht durch den Kopf ging? Um die Botschaft zu entschlüsseln, brauchte man sie nur vor einen Spiegel zu halten. Konnte es etwas Offensichtlicheres geben? Wenn man die Buchstaben des Wortes »dog« herumdrehte, was bekam man dann? Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Das niederste Wesen barg in seinem Namen die Macht des höchsten Wesens, des allmächtigen Schöpfers aller Dinge. War ihm der Hund deshalb gesandt worden? War Mr. Bones in Wahrheit die Reinkarnation jener Kraft, die ihm in jener Dezembernacht 1969 den Weihnachtsmann ins Haus geschickt hatte? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Für jeden anderen. Für Willy - eben weil er Willy war - nicht.
    Doch trotz allem blieb Mr. Bones ein Hund. Von der Schwanzspitze bis zur Schnauze war er ein klassischer Vertreter der Spezies canis familiaris, und ganz gleich, welche göttliche Präsenz sich unter seinem Fell manifestierte, er war doch vor allem das, wonach er aussah. Herr Wauwau, Monsieur Wuff-wuff, Graf Bello. Oder wie es ein Scherzbold in einer Bar in
    Chicago vor vier oder fünf Sommern treffend formuliert hatte: »Willst du wissen, wie die Lebensphilosophie eines Hundes lautet, Kumpel? Ich werd’s dir sagen. Sie besteht aus einem kurzen Satz:     Willy hatte damit kein Problem. Wer wußte denn schon, welche theologischen Mysterien in einem solchen Fall am Werk waren? Wenn Gott seinen eigenen Sohn in Menschengestalt auf die Erde geschickt hatte, warum sollte ein Engel nicht in Hundegestalt auf die Erde kommen? Mr. Bones war nun mal ein Hund, und in Wahrheit erfreute sich Willy an seinem Hundewesen und fand grenzenloses Vergnügen darin, das Schauspiel der hündischen Gewohnheiten seines Mitbruders zu beobachten. Er hatte noch nie ein Haustier gehabt. Jedesmal, wenn er in Kindertagen seine Eltern um eines gebeten hatte, hatten sie es ihm ausgeschlagen. Katzen, Schildkröten, Wellensittiche, Hamster, Goldfische - mit alldem wollten sie nichts zu tun haben. Die Wohnung sei zu klein, sagten sie, Tiere stanken oder kosteten Geld, oder Willy sei nicht verantwortungsbewußt genug. Und so hatte er bis zu Mr. Bones’ Erscheinen nie Gelegenheit gehabt, das Verhalten eines Hundes aus der Nähe zu beobachten, und auch nicht viele Gedanken daran verschwendet. Hunde waren nur als Schemen am Rande seines Bewußtseins aufgetaucht. Man mied die, die einen anbellten, und streichelte die, die einem die Hand leckten. Weiter reichten seine Kenntnisse nicht. Zwei Monate nach seinem achtunddreißigsten Geburtstag sollte sich das alles plötzlich ändern.
    Es gab so viel zu lernen, so viel Neues, das er begreifen, enträtseln und mit Sinn erfüllen mußte, daß Willy kaum wußte, wo er anfangen sollte. Der wedelnde im Gegensatz zum eingekniffenen Schwanz. Die aufgestellten im Gegensatz zu den schlaffen Ohren. Das Sich-auf-dem-Rücken-Wälzen, das Im-Kreis- Herumrennen, das Hinterteile-Beschnüffeln und das Knurren, die Bocksprünge und die Luftsprünge mit plötzlichem Richtungswechsel, das Hinkauern und das Anschleichen, die
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