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Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie

Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie

Titel: Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
Autoren: Ivy Paul
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eine abwehrende Handbewegung. „Ich werde ihn kaum abhalten können“, meinte sie düster. „Sei so gut, bring mir eine Tasse Tee und ein bisschen von deinem Gebäck. Und vergiss die Sahne nicht.“
    Die Ablenkung funktionierte, beflissen eilte das Dienstmädchen davon, und Anna lehnte sich erschöpft zurück.
    Welch eine unerhörte Idee! War ihr Onkel vom Wahnsinn befallen? Nie wieder würde sie ihn vertraulich Kit nennen, das war ihr von vornherein ungehörig vorgekommen. Und dann noch dieser skandalöse Vorschlag.
    Ihr Ruf wäre auf ewig ruiniert! Und eine wohlerzogene Dame wie sie besaß nichts anderes als ihren Ruf. Selbst zehntausend Pfund Rente im Jahr könnten Anna nicht dazu bringen, das, was ihr so teuer war, aufs Spiel zu setzen.
     
    Mit einer eleganten Bewegung ließ sich Anna auf den Stuhl neben ihre alte Freundin Sophie Hopplewhite sinken. Die Soiree im Salon von Lady Winchester war das gesellschaftliche Ereignis der Londoner High Society. Geladen wurden nur die reichsten, beliebtesten oder einflussreichsten Persönlichkeiten des ton . Anna war weder vermögend noch wichtig, dennoch war sie auch nach dem Tod ihrer Mutter und ihres Stiefvaters weiterhin ein Stammgast von Lady Winchester.
    „Ich habe erfahren, dass die Mazaroff singen wird.“
    Anna hob fragend eine Augenbraue.
    „Ninotschka Mazaroff, die berühmte Opernsängerin!“
    „Ach, die Mazaroff.“ Anna nickte und spielte Begeisterung vor. Sie hatte von der Diva gehört, doch ihr fehlte das Geld, um die Oper zu besuchen. Die Rolle der Königin der Nacht aus diesem neuen Musikspiel war auf die Mazaroff zugeschnitten, hieß es. Anna verkniff sich einen Seufzer.
    Sophie warf ihr einen schrägen Blick zu, doch bevor sie dazu kam, sich Anna vertraulich zuzuwenden, setzte sich Dorothy Skinner, Marchioness of Suffolk, zu ihnen. Die jungen Frauen nickten der Marchioness höflich zu.
    „Lady Hopplewhite, Miss Drysdale.“
    Sophie und Anna bemühten sich um angemessene Haltung. Lady Suffolk galt als streng, was das Benehmen betraf, und unglücklicherweise auch als tratschsüchtig.
    „Oh du meine Güte, dass er sich hierher wagt“, flüsterte die Lady überrascht.
    Anna entdeckte den Grund für den Ausbruch der Marchioness in einer dreiköpfigen Männergruppe, die den Musiksalon betrat: Ein kleiner, dicklicher Mann, den Anna gerüchteweise als Lord John Tanner identifizierte, gefolgt von Lucas St. Clare, Earl of Pembroke, einem gut aussehenden, blonden Gentleman, dem man nachsagte, ein Einzelgänger zu sein. Die beiden überragte ein mandeläugiger Mann mit glattem schwarzen Haar, das im Kerzenschein bläuliche Lichter reflektierte.
    Instinktiv rutschte Anna tiefer, versuchte, hinter dem breiten Rücken ihres Vordermanns unsichtbar zu werden und linste zu Christopher, der sich jetzt suchend umblickte.
    „Diese Unverfrorenheit, hier zu erscheinen!“, entrüstete sich Lady Suffolk.
    „Wen meint Ihr, Lady Suffolk?“ Sophie blickte sich neugierig um.
    Lady Suffolk machte eine verstohlene Augenbewegung zu Christopher. „Ihn, Christopher Drysdale, den Chinesen.“
    Annas Kopf flog herum. „Chinese?“
    Lady Suffolk fächelte sich Luft zu und musterte Anna interessiert. „Seid Ihr nicht verwandt mit ihm?“
    Anna machte eine betont gleichgültige Handbewegung. „Er ist der Halbbruder meines Stiefvaters und der neue Earl of Munthorpe. Mehr ist mir nicht bekannt. Mein Stiefvater pflegte nicht über Mr. Drysdale zu reden.“
    Die Marchioness nickte zustimmend. „Wie ausgesprochen weise. Ihrem Stiefonkel eilt ein denkbar schlechter Ruf voraus. Er umgibt sich mit zwielichtigen Gestalten. Wesen, die man schwerlich als Damen bezeichnen kann.“ Die Lady schnaubte verächtlich. „Aber vermutlich ist das auf den fremdländischen Anteil seines Blutes zurückzuführen. Wie man mir erzählte, herrscht in China die Sitte, Frauen die Füße abzuschneiden.“
    Sophie wurde bleich und keuchte. Anna verpasste ihr einen verstohlenen Knuff.
    „Seid Ihr sicher, Mylady? Das erscheint mir reichlich … barbarisch.“
    „Wer weiß?“ Lady Suffolk machte eine elegante Kopfbewegung. „Ich verstehe nicht, weshalb Lady Winchester sich herablässt, diesen Mann einzuladen. Gewiss, er ist unvorstellbar reich, gut aussehend und nun auch ein Earl. Sein Benehmen in Gesellschaft ist für einen Rohling erstaunlich kultiviert, dennoch: Die Chinesen haben unter unsereins nichts verloren.“ Die letzten Worte der Lady waren von einem blasierten Unterton begleitet, und die
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