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Tiffany

Tiffany

Titel: Tiffany
Autoren: Felix Thijssen
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jetzt lass mich in Ruhe, alter Widerling!« Sie fuchtelte mit den Händen. »Ich brauche keinen Arzt. Aua!«
    »Jetzt halt endlich still!« René griff jetzt zu seinem autoritären Doktorton. Er zog die Kopfwunde an den Rändern auseinander und säuberte sie energisch mit Watte und einer Tinktur. Tiffany jammerte ein bisschen, ließ ihn aber gewähren. Ich ging zum Wandschrank und schenkte ein Glas Cognac ein.
    »Wo wohnen deine Eltern?«, fragte René.
    Eine sinnlose Frage. Er wusste ebenso gut wie ich, dass sich achtzig Prozent aller Tiffanys aus Heimkindern rekrutierten und dass sie in ihrem familiären Umfeld häufig Misshandlungen, Inzest oder Verwahrlosung ausgesetzt gewesen waren. Die meisten von ihnen waren Problemkinder, die von einem Heim ins nächste und von einem Therapeuten zum anderen geschoben wurden. Manche waren schon mit dreizehn drogenabhängig und rutschten in die Prostitution ab.
    René sprühte ein Medikament auf die Kopfwunde und auf den Kratzer an ihrer Wange. Dann schloss er seinen Koffer und winkte mich auf die andere Seite der Schiebetür. Ich folgte ihm mit der Cognacflasche und einem zweiten Glas.
    »Na gut, einen kleinen nehme ich«, sagte René mit gedämpfter Stimme. »Die Wunde ist nicht Besorgnis erregend, ich brauchte sie noch nicht einmal zu nähen. Sie hat nichts gebrochen, nur ein paar Kratzer und blaue Flecken. Sicher von einem brutalen Freier. Sie ist eine Heroinnutte.«
    »Sag bloß.«
    »Heutzutage sind die meisten Nutten crackabhängig.« Er trank einen Schluck von seinem Cognac.
    »Ich lese auch Zeitung«, bemerkte ich.
    »Crack ist billiger als Heroin, aber die Wirkung hält nur etwa zehn Minuten an, und die Süchtigen brauchen stündlich eine neue Dosis. Sie rauchen das Zeug, meistens in Pfeifen.«
    »René …«
    Er schüttelte den Kopf und wies mit dem Kinn hinüber zum anderen Zimmer. »Heroin kann man bis zu einem gewissen Grad noch im Griff behalten, aber von Crack wird man sofort süchtig. Die Abhängigen müssen es ständig konsumieren und würden einem den Schädel einschlagen, um dranzukommen. Bei hochgradig Süchtigen sind die Lippen vom Rauchen verbrannt und aufgesprungen. Es sind mittlerweile schon Fälle von Aidsinfektionen infolge von Oralsex mit Crackhuren bekannt geworden.«
    »René«, wiederholte ich geduldig. »Was sollen wir denn jetzt mit dem Mädchen machen, wie immer sie auch heißen mag?«
    René zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Anzeichen für eine Überdosis entdeckt. Meiner Meinung nach ist sie keine Schwerstabhängige.«
    »Du kennst dich ja gut aus im Sozialarbeiterjargon.«
    René errötete ein wenig. »Sie ist schwach, unterernährt. Sie würde schon umfallen, wenn ein Hund sie anspringt.
    Ihr Körper ist seit … ich würde sagen, mindestens einem Jahr an regelmäßigen Konsum gewöhnt …«
    Ich unterbrach ihn. »Bring sie doch einfach ins Krankenhaus.«
    René starrte mich an. »Wegen einer Beule am Kopf? Da werden die sich aber freuen. In den Krankenhäusern herrscht chronischer Bettenmangel. Für dringende Fälle gibt es zwar die Notfallzentren, aber da sie kein Notfall ist, werden die auch keinen Platz für sie haben.« Er sprach mit dem Zynismus eines Amsterdamer Arztes, der dieses Dilemma nur allzu gut kannte.
    »Und was jetzt?«
    »Sie müsste auf Entzug, aber das ist weder dein noch mein Problem. Lass sie doch heute Nacht einfach hier.«
    »Hier, bei mir?«, fragte ich ungläubig. »Aber was soll ich denn mit ihr machen? Ich habe sie doch nur zufällig gefunden. Bitte, tu mir einen Gefallen.«
    »Ich kann sie nicht mitnehmen, und im Übrigen wäre es nicht gut für sie, wenn sie jetzt schon wieder transportiert würde.« Das klang mir nach einer raffinierten Ausrede. Rasch trank René sein Glas leer. »Was sie jetzt braucht, ist ein bisschen Ruhe. Du hast ein Badezimmer, du hast ein Schlafzimmer. Willst du sie etwa wieder vor die Tür setzen?«
    »Du meinst, ich soll auf dem Sofa übernachten? Na wunderbar.«
    »Komm, ich helfe dir.« René stellte sein Glas auf meinen Schreibtisch, ging nach nebenan und fasste das Mädchen an der Schulter.
    »Lass mich in Ruhe, Mistkerl!«, fauchte Tif.
    »Wir bringen dich jetzt ins Bett. Du kannst bei diesem Meneer hier übernachten.«
    Tiffany schaute mich an. Ihre Augen blickten so kalt wie die Nordsee. Sie waren grau, umrandet von einer ganzen Palette verschiedener Farben, als hätten ihre Tränen versucht, das Schwemmholz von Schmerz und Schmutz am Strand ihrer Augenlider
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