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Tierische und andere Offerten

Tierische und andere Offerten

Titel: Tierische und andere Offerten
Autoren: Rainer Stecher , andere
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menschlich Maß ihn dazu zwingt. Doch wirft er ab, das schützende Gewand, entflieht der stumpfen Masse Wahrheit; ein flammend Licht wird seinen Geist erhellen, ins Dunkle schwindet Angst und Hoffnungslosigkeit.“
     
    Rainer Stecher
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
    Die Ziege Karolin
     
    Es war einmal eine Ziege mit dem schönen Namen Karolin. Sie war noch jung an Jahren, doch dem Zickleinalter schon entwachsen. – Ein Teenager, mit glänzendem braunen Fell und einem kräftigen schwarzen Rückenstreifen. Dazu wohlgeformte schlanke Läufe und einen schlanken Kopf mit zierlichen Hörnern. Das würde gewiss einmal eine sehr attraktive Ziegendame werden.
    Karolin lebte mit ihrer Familie – dem oft grummelnden älteren Bock Willi, der sanftmütigen Mutter Erna und drei jungen Zicklein – auf einem Bauernhof am Rande der großen Stadt Berlin. Und wie die Jugend nun mal ist, stellten die kleinen Zicklein allen möglichen Unsinn an. Da war Willis Grummeln allzu verständlich. Auch deshalb, weil Karolin jeden Tag etwas zu meckern hatte. Dabei ließ die umzäunte Sommerwiese, auf der sie sich wieder befanden, für Ziegenherzen nichts zu wünschen übrig. Saftiges Gras und viele leckere Blumen standen jeden Tag auf der Speisekarte.
    Aber der Teenager langweilte sich. Jeden Tag das Gleiche. Tags auf der Wiese, nachts im Stall. Dann, das Generve der Alten. Dies geht nicht und das schon gar nicht. Keine Action. – Wenn wenigstens auf den Nachbarwiesen, auf denen noch andere Ziegenherden weideten, einpaar coole Typen gewesen wären. – Fehlanzeige! Da war der Rehbock, der manchmal mit seinem Rudel aus dem nahen Wald kam, schon ein anderes Kaliber. Aber Karolins schmachtende Blicke hatte der noch nicht bemerkt.
    Eines Tages, aus dem Nichts heraus, platzte die Bombe. Vater Willi hatte ein Fleckchen mit besonders herrlichen Blumen entdeckt.
    Meckernd rief er Erna. Aber die hatte mit den Zicklein zu tun. Und so lief Karolin hin. Ohne Willi zu fragen, fing sie zu futtern an. Das schmeckte. Aber das folgende Donnerwetter nicht.
    So hatte sich Willi noch nie aufgeregt.
    Beleidigt trottete Karolin ans andere Ende des Zaunes. »Soll sich nicht so aufgeilen, der Alte! Abhauen müsste man. – Weg!« Sie stieß mit den Hörnern wütend gegen die Bretter. »Warum nicht? So hoch ist das nicht. Etwas Anlauf, etwas klettern und ...« Im Nu war Karolin drüben.
    Aufgeregt meckernd kam die Familie gelaufen. Auch die anderen Herden machten Lärm.
    »Komm sofort zurück!«
    »Das geht nicht!«
    »Wenn dir was passiert!«
    Bauer Lemke hörte den Lärm schon von Weitem und wunderte sich über die kopflos rumrennenden Tiere. Verdammt da fehlte eine! – Karolin.
    Aufgeregt schienen ihm die Tiere was sagen zu wollen. Aber wie so oft im Leben, einer versteht die Sprache des anderen nicht.
    Lemke rannte um den Zaun herum und untersuchte das Schloss. – Alles unversehrt.
    Aber halt!
    Eines der obersten Zaunbretter war angebrochen.
    Waren hier Diebe am Werk?
    Er holte sein Handy aus der Tasche und wählte den Polizeiruf, während sich Karolin mit ausgelassenen Sprüngen unbemerkt dem Waldrand näherte und verschwand.
     
    Das Abenteuer konnte beginnen. Doch zunächst einmal bekam das Zicklein Hunger, denn ihr Vater Willi hatte es ja auf der Wiese daran gehindert, sich am saftigen Gras satt zu fressen. Aber auch hier am Waldrand gab es genügend grünes Gras und Karolin fraß es mit Wonne.
    So kam es, dass sie mit gesenktem Kopf immer weiter in den Wald lief, ohne es recht zu merken. Allerdings wurde das Gras nun immer weniger, zwischen den Steinen wuchsen Moos und Gestrüpp. Bald waren auf dem Waldboden nur noch stachlige Tannennadeln und trockene Tannenzapfen zu finden. Da streckte das Zicklein endlich den Kopf in die Höhe und erschrak mächtig.
    Über ihm war es dunkel, hohe Tannen bildeten ein undurchdringliches Dach, vom Himmel war nichts zu sehen. Das hatte Karolin noch nie erlebt. Über den Wiesen war sonst immer die Sonne zu sehen. Nur bei trübem Wetter nicht; der Himmel aber war immer da. Am liebsten hatte Karolin natürlich den Sonnenschein, aber auch den blauen Himmel mit den unzähligen Schäfchenwolken liebte sie. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass die kleinen Wölkchen ihre Geschwister wären. Sollte Karolin einmal sterben, dann käme auch sie in den Himmel und würde im Kreis dieser Schäfchenwolken jeden Tag genug Futter finden und zufrieden auf die Erde herabblicken.
    Was nun? Der Himmel war plötzlich weg.
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