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Tierische und andere Offerten

Tierische und andere Offerten

Titel: Tierische und andere Offerten
Autoren: Rainer Stecher , andere
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Kissen zurück und schloss seufzend die Augen.
    Schon vor dem Dorf stießen die beiden auf eine große Anzahl Spuren. Hendrik kniete sich nieder und befühlte mit der Hand den staubtrockenen Boden. »Das sind Bärenspuren«, flüsterte er und griff sich nachdenklich die Stirn reibend den nächstbesten Knüppel. Er fand es seltsam, dass Bären im Rudel auftauchen und noch dazu in einer Gegend, in der es seit vielen Jahren keine mehr gab.
    »Ein gutes Dutzend. Siehst du, Miranda?«
    Seine Hand wies auf zahllose deutlich erkennbare Abdrücke. Miranda bebte vor Angst. Instinktiv ertastete sie Hendriks Hand, während sie langsam hinter ihn trat, in den Schutz seiner muskulösen Schultern. Hendrik aber lauschte gebannt in die Dämmerung. Nicht das leiseste Geräusch sollte ihm entgehen. »Ich glaube, sie sind fort!«, beruhigte er Miranda nach einer Weile. »Wäre es anders, dann hätten sie uns längst angegriffen.«
    »Aber, wie kann das sein? Ich ... Mein Traum, die Bärin ... Sie sagte, ich bekäme ein Kind ... und nun das?« Nachdenklich schweiften ihre Blicke über den Boden, dann raffte sie unvermittelt den Saum ihres Kleides und rannte auf die Hütte ihres Vaters zu. Noch bevor Hendrik sie zur Vorsicht mahnen konnte, verschwand sie in den lichtlosen Räumen.
    Hendrik beschloss, in der Zwischenzeit die anderen Hütten nach Überlebenden abzusuchen und Hilfe zu leisten, wo Hilfe nötig war, denn offenbar hatten die Bären jeder Familie des Dorfes einen Besuch abgestattet. Er hatte Blut in einigen der Abdrücke entdeckt und Schleifspuren, die aus dem Dorf herausführten. All das hatte er Miranda aber vorsorglich verschwiegen.
    Kaum dass er den Dorfplatz überquert hatte, ließ ihn ein langer, gellender Schrei erschaudern. Er sah auf die Hütte, in der Miranda verschwunden war, und hetzte mit langen Schritten darauf zu. Als er eintrat, schlug ihm beißender Gestank entgegen. Er presste die Hand vor Nase und Mund und sah sich um. Er sah Blut, das in breiten Lachen den Boden bedeckte, umgestürzte und zerbrochene Möbel an denen Fell- und Kratzspuren erkennbar waren und von den Wänden abgerissene Regale und Bilder. Kurz, ihm offenbarte sich ein Chaos aus Schmerz und Angst, ein grausiges Bild tödlicher Gewalt.
    Das Blut begann in Hendriks Ohren zu rauschen und plötzlich war ihm, als hörte er die entsetzlichen Todesschreie der Menschen, die hier im Dorf ihr Leben gelassen hatten. Sein Blick fiel auf Miranda, die schluchzend neben dem Bett ihres Vaters kauerte, seinen von blutigen Wunden gezeichneten Körper rüttelte und ihn anflehte, aufzuwachen. All das quälte sich so vehement durch sein Hirn, dass er von Wut und Trauer überwältigt auf die Knie sank und sein Gesicht verzweifelt in den Händen vergrub. Sekunden später stieg ein zorniges und durchdringendes Jammern aus seiner Kehle. Es war so laut, dass sich Miranda ihm zuwandte und ihn weinend in die Arme nahm. Doch wenig später drangen röchelnde Laute aus dem Bett ihres Vaters. Miranda drehte sich mit stockendem Atem um und sah, wie sich seine bleiche Hand über die blutverschmierte Zudecke schob.
    Der Ohnmacht nahe, schleppte sie sich mit letzter Kraft zu ihm, nahm seine Hand in die ihre und benetzte sie mit ihren Tränen, während flehende Worte der Liebe ihren Mund flüsternd verließen.
    »Die Bärin ... Sie hat ihre Kinder hierher geführt«, röchelte ihr Vater plötzlich mit zittriger Stimme. »Sie hat uns verraten, sie hat mich verraten, meinen Glauben – all die Jahre!« Sein Kopf sank zurück ins Kissen, Blut floss aus seinem Mund und seine Lippen formten Worte ohne Ton, als spräche er zu sich selbst.
    Hendrik setzte sich neben Miranda aufs Bett und fühlte den Körper des Sterbenden, der kalt war und in dem nur noch wenig Leben zu sein schien.
    »Verlass mich nicht!«, flehte Miranda indes ihren Vater an, dessen Blick wie abwesend auf ihr lag.
    »Hab keine Angst, mein Kind! Werd’ immer bei dir sein! Nimm deinen Hendrik und glaubt an euch – glaubt an das, was ihr seht und fühlt! Es sind nur Tiere, mein Kind! Nichts weiter, als das!« Ganz sanft drückte er Mirandas Hand. Und während er die Augen schloss und sein Herz den Hauch des Todes empfing, flüsterten die bleichen Lippen seine letzten Worte: „Der Stoff, aus dem der Mensch die Wahrheit webt, gleicht dem Gewand, das er vor Angst und Kälte zitternd, sich schützend um die Schultern legt. Denn wisst! – Es ist die Vielzahl seiner Art, die ihn im Geist beschränkt, in die er sinkt, wenn
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