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Tierarzt

Tierarzt

Titel: Tierarzt
Autoren: James Herriot
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eine bei gutmütigen Hunden ganz typische Geste, die auszudrücken schien, er sei bereit, sich mit allem abzufinden, was ich für richtig hielte.
    Ich beugte das Gelenk noch weiter, bis ich sicher sein konnte, daß das Ende der Speiche frei war, dann drehte ich Speiche und Elle vorsichtig nach innen.
    »Ja... ja...« murmelte ich. »Das muß ungefähr die richtige Position sein...« Aber ich wurde in meinem Selbstgespräch durch ein leichtes Knacken der Knochen unterbrochen.
    Ungläubig blickte ich auf das Bein: Es war wieder völlig gerade.
    Benjamin konnte es offenbar auch nicht gleich fassen, denn er spähte vorsichtig durch seine zottigen Fransen, ehe er die Nase senkte und die Stelle beschnüffelte. Dann, als er merkte, daß wieder alles in Ordnung war, stand er gemächlich auf und ging zu seinem Herrn hinüber. Das Bein war ganz normal, keine Spur von Hinken.
    Ein Lächeln breitete sich über Arnolds Gesicht. »Sie haben ihn also wieder hingekriegt.«
    »Sieht so aus, Mr. Summergill.« Ich versuchte, meiner Stimme einen gleichgültigen Klang zu geben, aber ich hätte jubeln mögen. Während ich das Bein nur untersucht, es bloß ein bißchen abgetastet hatte, um mir ein Bild zu machen, hatte sich das Gelenk wie von selbst wieder eingerenkt. Ein wunderbarer Zufall.
    »Da bin ich aber sehr erleichtert«, sagte der Bauer. »Nicht wahr, alter Bursche?« Er bückte sich und kitzelte Benjamin am Ohr.
    Ich brauchte nicht enttäuscht zu sein, daß er meine Leistung mit solcher Gelassenheit hinnahm, denn ich verstand, daß er mir damit indirekt ein Kompliment machte: Wenn es sein mußte, vollbrachte sein Tierarzt Dr. James Herriot eben wahre Wunder!
    »Nun, dann will ich mich mal auf den Heimweg machen«, sagte ich, und Arnold begleitete mich zum Wagen.
    »Ich hab gehört, Sie sind einberufen worden«, sagte er, als ich die Tür öffnete.
    »Ja, ich fahre morgen ab, Mr. Summergill.«
    »So, morgen schon?« Er zog die Augenbrauen hoch.
    »Ja, nach London. Waren Sie schon mal dort?«
    »Nein, nein, um Gottes willen!« Die Wollmütze zitterte, so heftig schüttelte er den Kopf. »Das wär nichts für mich.«
    Ich lachte. »Und warum nicht?«
    »Das will ich Ihnen genau sagen.« Er kratzte sich nachdenklich das Kinn. »Ich bin ein einziges Mal in Brawton gewesen, und das hat mir gelangt. Ich konnte nicht auf der Straße gehen!«
    »Aber warum denn nicht?«
    »Weil so viele Leute da waren. Ich machte große Schritte, ich machte kleine Schritte, aber egal, was für Schritte ich machte, ich kam einfach nicht voran.«
    Ich wußte genau, was Arnold meinte. Nur zu oft hatte ich ihn mit langen, gleichmäßigen Schritten über seine Felder gehen sehen, wo nichts ihm in den Weg kam. »Große Schritte und kleine Schritte«. Er hätte es nicht besser ausdrücken können.
    Ich ließ den Motor an und winkte, und als ich losfuhr, hob der alte Mann die Hand.
    »Geben Sie auf sich acht, mein Junge«, murmelte er.
    Ich sah Benjamin hinter der Küchentür hervorlugen. Bei jeder anderen Gelegenheit wäre er mit ins Freie gekommen, um mich zu verabschieden, aber dieser Tag heute war zu aufregend für ihn gewesen. Sein Appetit auf Abenteuer war gestillt.
    Langsam und vorsichtig fuhr ich den leider sehr schlechten Weg abwärts durch den Wald bis hinunter ins Tal. Hier hielt ich an und stieg aus.
    Es war ein kleines, einsames Tal zwischen den Hügeln, ein grüner, aus dem wilden Bergland herausgetrennter Fleck. Das Leben eines Landtierarztes bietet den Vorteil, daß er solche verborgenen Plätze zu sehen bekommt. Außer dem alten Arnold kam so gut wie niemals irgend jemand hierher, nicht einmal der Briefbote, der die spärliche Post in einem Kasten am oberen Ende des Pfades zurückließ. Niemand sah das flammende Rot und Gold der herbstlich verfärbten Bäume oder hörte das geschäftige Rauschen und Murmeln des Wildbachs.
    Ich ging an seinem Rand entlang und beobachtete die kleinen Fische, die in der kühlen Tiefe umherflitzten. Im Frühling waren die Ufer zu beiden Seiten mit gelben Himmelsschlüsseln übersät, und im Mai wogte ein Meer von Glockenblumen zwischen den Bäumen, aber heute war in der Luft trotz des strahlend blauen Himmels bereits der kühle Hauch des sterbenden Jahres zu spüren.
    Ich stieg ein Stückchen den Hang hinauf und setzte mich zwischen die Farnkräuter, deren Grün sich jetzt rasch in Goldbraun verwandelte. Sam ließ sich, wie es seine Gewohnheit war, neben mir nieder, und meine Hand glitt über das seidige Fell der
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