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Tierarzt

Tierarzt

Titel: Tierarzt
Autoren: James Herriot
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weniger gefiel. Ähnlich freudig begrüßte er auch meinen Wagen – mit Vorliebe besonders dann, wenn ich ihn gerade gewaschen hatte – und bespritzte Fenster und Karosserie freigebig mit Schmutz. Was Benjamin tat, tat er gründlich.
    Doch als ich heute auf den Hof fuhr, war kein Benjamin da, um mich zu begrüßen. Arnold wartete allein auf mich. Es war ein ungewohntes Bild, ihn ohne seinen Hund anzutreffen.
    Mr. Summergill mußte meinen fragenden Blick bemerkt haben, denn er deutete mit dem Daumen über die Schulter.
    »Er ist im Haus«, brummt er, und seine Augen blickten besorgt.
    Ich stieg aus dem Wagen und sah ihn einen Augenblick an, wie er da in seiner typischen Haltung mit straffen Schultern und hocherhobenem Kopf vor mir stand. Ich sprach vom ›alten‹ Arnold Summergill, und er war auch über siebzig, aber die Gesichtszüge unter der runden Wollmütze, die er stets über die Ohren gezogen trug, waren klar und regelmäßig, und die hochgewachsene Gestalt war schlank und kerzengerade. Er war ein stattlicher Mann, der in jungen Jahren eine beeindruckende Erscheinung gewesen sein muß, doch er hatte nie geheiratet. Ich hatte oft das Gefühl, daß es da irgendeine Geschichte gab, doch er schien völlig zufrieden mit seinem Leben – »ein richtiger Einsiedler«, sagten die Leute im Dorf –, das nur Benjamin mit ihm teilte.
    Als ich ihm in die Küche folgte, verscheuchte er gelassen zwei Hennen, die auf einer staubigen Kommode hockten. Dann sah ich Benjamin und blieb erschrocken stehen.
    Der große Hund saß völlig regungslos neben dem Tisch, und heute waren die Augen hinter den herabhängenden Haaren groß und dunkel vor Grauen. Er schien zu verängstigt, um sich zu bewegen, und als ich sein linkes Vorderbein sah, konnte ich es ihm nicht verübeln. Arnold hatte also doch recht gehabt; es stand tatsächlich ganz gewaltig heraus, und zwar in einem Winkel, der mein Herz einen Augenblick schneller schlagen ließ: eine komplette Dislokation des Ellbogens, bei der die Speiche in einer fast unmöglichen Schrägstellung zum Oberarm stand.
    Ich mußte erst schlucken, ehe ich etwas sagen konnte. »Wann ist es passiert, Mr. Summergill?«
    »Vor einer knappen Stunde.« Er zerrte nervös an seiner Wollmütze. »Ich habe die Kühe auf ein andere Weide getrieben. Benjamin macht sich bei solchen Gelegenheiten gern einen Spaß daraus, sie in die Fersen zu zwicken. Heute hat er es, wie es scheint, einmal zu oft getan, denn eine Kuh hat ausgeschlagen und ihn am Bein getroffen.«
    »Ich verstehe.« Meine Gedanken arbeiteten fieberhaft. Es war eine absolut ungewöhnliche Sache, etwas, das ich noch nie erlebt hatte – und auch bis heute, dreißig Jahre später, nie wieder zu Gesicht bekommen habe. Wie um Himmels willen sollte ich das Bein hier oben in der Einsamkeit wieder einrenken? Ohne Vollnarkose, zu der ich aber einen erfahrenen Assistenten benötigte, würde das kaum zu machen sein.
    »Armer Kerl«, sagte ich und streichelte seinen Kopf, »was machen wir bloß mit dir?«
    Der Hund sah mich schwanzwedelnd an und sperrte beim Atmen weit das Maul auf, wobei zwei Reihen weiß blitzender Zähne sichtbar wurden.
    Arnold räusperte sich. »Können Sie ihm helfen?«
    Was sollte ich darauf erwidern? Eine unbekümmerte Antwort würde möglicherweise einen falschen Eindruck erwecken, aber andererseits wollte ich ihn nicht mit meinen Zweifeln beunruhigen. Es würde sehr schwierig sein, diesen großen Hund nach Darrowby zu transportieren. Er füllte beinahe die Küche aus, gar nicht zu reden von meinem kleinen Wagen. Und dann mit diesem ausgerenkten Bein. Und wie würde Sam sich mit ihm vertragen? Aber selbst wenn es mir gelänge, das Bein in der Praxis wieder einzurenken, mußte ich ihn ja auch noch wieder zurückbringen. Das würde mich den Rest des Tages kosten.
    Ich fuhr mit den Fingern leicht über das ausgerenkte Gelenk und versuchte, mir die anatomischen Einzelheiten des Ellbogens ins Gedächtnis zurückzurufen. Damit das Bein sich in dieser Stellung befinden konnte, mußte die Speiche völlig aus der normalen Position gesprungen sein, und um sie zu reponieren, mußte man das Gelenk biegen, bis das Ende der Speiche freilag.
    »Dann wollen wir mal sehen«, sagte ich leise vor mich hin. »Wenn der Hund vor mir auf dem Operationstisch läge, würde ich so vorgehen müssen.« Ich ergriff das Bein knapp über dem Ellbogen und bewegte die Speiche langsam nach oben. Benjamin warf mir einen raschen Blick zu, dann wandte er den Kopf ab,
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