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Tier zuliebe

Titel: Tier zuliebe
Autoren: Birgit Klaus
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Miteinander und das wiederum das Entstehen von Kultur. Diese Kette ist es, die im Laufe der Evolution den Menschen eben zum Menschen gemacht hat – eine These, die viele Forscher vertreten, zum Beispiel auch der niederländische Zoologe und Anthropologe Carel van Schaik. »Kultur macht schlau«, sagt er. Schaik ist nicht nur Direktor des Anthropologischen Instituts der Universität Zürich, sondern auch international anerkannter Primatenforscher. In einem Orang-Utan-Forschungsprojekt im Regenwald von Tuanan in der indonesischen Provinz Zentralkalimantan auf Borneo versucht er die These zu belegen, dass es neben kulturellen Innovationen nicht zuletzt eben auch die Empathie ist, die zum hohen Entwicklungsstand des Menschen geführt hat. Während Evolutionsbiologen normalerweise den Zeitpunkt der Menschwerdung dort festlegen, wo wir begannen, Werkzeuge zu benutzen, hält van Schaik einen anderen Moment für entscheidend: nämlich als wir anfingen, in Familienverbänden zu leben. Genau da machte unser Gehirn seiner These nach einen gewaltigen Sprung.
    Van Schaik will also genau wissen: Weshalb hat sich vor etwa acht bis sechs Millionen Jahren die eine Affenart so weiterentwickelt, dass sie heute Sonden zum Mars oder Men schen auf den Mond fliegen kann, während die andere im Dschungel geblieben ist? Viele Primatenforscher heben immer wieder hervor, dass Mensch und Menschenaffe im Wesentlichen gleich seien – schließlich haben sie zu 98,7 Prozent die gleiche Erbsubstanz. Den kleinen, aber entscheidenden Unterschied macht die Hirngröße: Das Gehirn eines Menschen ist dreimal größer als das der Menschenaffen. Wie kommt es? Wann und vor allem warum fing unser Gehirn zu wachsen an? Eine Frage, die viele Nicht-Vegetarier gerne zum Anlass nehmen, um zu betonen: Nur dank des hochwertigen Eiweißes aus dem Fleisch sei das Gehirn des Menschen größer geworden.
    Aber was ist das für ein Argument? Selbst wenn unsere aasfressenden Vorfahren vor zwei Millionen Jahren durch die Gegend streiften, um hier und da das Gehirn oder das Knochenmark eines von Raubtieren zurückgelassenen Kadavers zu essen – was für eine unappetitliche Vorstellung – und sie dadurch in den Genuss langkettiger, mehrfach ungesättigter Fettsäuren kamen, die das Gehirnwachstum begünstigt haben könnten – es gibt genügend Raubtiere, die ständig tierisches Eiweiß zu sich nehmen und trotzdem haben sie ein viel kleineres Hirn als der Mensch. Und warum? Weil sie laut van Schaik eben nicht dieselbe Initialzündung hatten. Als der Homo erectus, der erste Vertreter der Gattung »Homo«, vor ca. zwei Millionen Jahren als Jäger und Sammler durch die Savanne zog, war sein Gehirn zwar schon recht groß, zwischen 700 und 900 Kubikzentimeter, aber das entscheidende Wachstum setzte erst ein, als er anfing, sich gemeinsam mit anderen um seine Jungen zu kümmern. Die gemeinsame Aufzucht, für die Empathie und Abstimmung notwendig waren, ließ laut van Schaik neue Strukturen, Gehirnwindungen und -verbindungen sprießen und das kostbare Organ stetig wachsen. Aber warum hat das Gehirn der Menschenaffen keinen Sprung gemacht? Leben die nicht zum Teil auch in familienartigen Strukturen? Das möchte ich von Carel van Schaik wissen, der soeben erst von einer Südafrika-Expedition zurückgekehrt ist. Ein Anruf am anthropologischen Institut beschert mir eine freundliche Aufklärung, bei der ich als frühere alleinerziehende Mutter im ersten Moment allerdings leicht zusammenzucke:
    Menschenaffenmütter sind alle alleinerziehend, während Menschenmütter, zumindest bei den Jägern und Sammlern, immer von vielen Seiten Hilfe bekommen. Wir haben also andere Familienstrukturen. Die gemeinschaftliche Jungenaufzucht hat eine neue Psychologie hervorgerufen, die im Allgemeinen eine größere Zusammenarbeit ermöglicht und allmählich größere Hirne gefördert hat (und energetisch ermöglicht). Es ist ein allgemeiner Trend unter Tieren, dass größere Intelligenz sich besser durchsetzen kann unter den Bedingungen der gemeinschaftlichen Jungenfürsorge. Das ist jedenfalls der Kern des Argumentes.
    Das Gehirn ist mit dem sozialen Lernen also geradezu explodiert und der Homo infolgedessen schlauer geworden. So ist tatsächlich auch der Neocortex, der für das Mitfühlen im Gehirn zuständig ist, der neuere Teil unseres Gehirns. Dass nicht allein der Verzehr von tierischem Eiweiß uns im Laufe der Jahrmillionen zu Menschen gemacht hat und wir deshalb in ewiger Dankbarkeit geradezu
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