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Tiefsee

Tiefsee

Titel: Tiefsee
Autoren: Clive Cussler
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schön.
    Estelles Vergangenheit rückte in immer weitere Ferne. Mit jeder Drehung der ausgeleierten Maschinen vergrößerte sich die Kluft zwischen Estelles eintönigem Leben voll Selbstverleugnung und der strahlenden Zukunft, die sie für sich anpeilte.
    Arta Casilighios Metamorphose zu Estelle Wallace begann, als sie unter dem Sitz eines Autobusses auf dem Wilshire-Boulevard während der Stoßzeit einen verlorenen Paß entdeckte.
    Ohne eigentlich zu wissen warum, steckte ihn Arta in ihre Handtasche.
    Auch mehrere Tage danach hatte sie das Dokument noch immer weder dem Busfahrer gegeben noch der rechtmäßigen Besitzerin zugeschickt. Sie studierte die Seiten mit den ausländischen Stempeln stundenlang. Das Gesicht auf dem Foto faszinierte sie. Obwohl die Paßbesitzerin besser frisiert war, sah sie ihr erstaunlich ähnlich. Beide Frauen waren ungefähr im gleichen Alter, ihre Geburtstage lagen kaum acht Monate auseinander. Ihre braunen Augen entsprachen dem Paßbild, und abgesehen vom Unterschied in Frisur und Haartönung hätte man sie für Schwestern halten können.
    Sie begann sich so zu schminken, daß sie wie Estelle Wallace aussah, die ihr zweites Ich wurde, das zumindest im Geist an die exotischen Orte der Welt flüchten konnte, die für die schüchterne, mausgraue Arta Casilighio unerreichbar waren.
    Eines Abends nach Geschäftsschluß in der Bank, in der sie arbeitete, war ihr Blick auf die Bündel frisch gedruckter Geldscheine gefallen, die am Nachmittag von der Federal Reserve Bank im Geschäftsviertel von Los Angeles geliefert worden waren. Sie hatte sich in den vier Jahren ihrer Anstellung schon so sehr daran gewöhnt, mit großen Geldsummen zu arbeiten, daß sie der Anblick kaum erregte, eine Abstumpfung, die früher oder später bei allen Kassenbeamten eintritt. Doch unerklärlicherweise eröffneten diesmal die Bündel grüner gedruckter Zahlungsmittel eine ganz neue Dimension: Im Unterbewußtsein begann sie sich vorzustellen, daß sie ihr gehörten.
    Arta fuhr an diesem Wochenende nach Hause und schloß sich in ihrer Wohnung ein, wo ihr Entschluß reifte und sie das Verbrechen plante, das sie begehen wollte; sie übte jede Bewegung, jede kleinste Geste ein, bis sie ihr glatt und reibungslos gelang. Die ganze Sonntagnacht über lag sie wach, bis der Wecker klingelte; sie war in kalten Schweiß gebadet, aber fest entschlossen, ihren Plan durchzuführen.
    Die Bargeldsendung traf jeden Montag in einem Panzerwagen ein und belief sich gewöhnlich auf sechs- bis achthunderttausend Dollar. Nach nochmaligem Zählen wurden die Banknoten bis zur Verteilung am Mittwoch an die Zweigstellen der Bank im ganzen Stadtbereich von Los Angeles aufbewahrt. Sie hatte sich ausgerechnet, daß der Montagabend die richtige Zeit für ihren Coup war, während sie ihre Geldlade im Tresor deponierte.
    Nachdem Arta am Morgen geduscht und sich geschminkt hatte, zog sie eine Strumpfhose an.
    Sie wickelte eine Rolle mit doppelseitigem Klebeband von der Mitte der Waden bis über die Oberschenkel um ihre Beine, wobei sie die äußere Schutzschicht des Klebestreifens nicht abzog. Diese merkwürdige Vorrichtung verdeckte sie mit einem langen Rock, der ihr fast bis zu den Knöcheln und noch einige Zentimeter über den Klebestreifen hinaus reichte.
    Als nächstes nahm sie sauber zurechtgeschnittene Päckchen festes Schreibpapier und schob sie in eine große Beuteltasche.
    Jedes zeigte auf der Außenseite einen frisch gedruckten, funkelnagelneuen Fünfdollarschein und war mit der blauweißen Originalbanderole der Federal Reserve Bank umwickelt. Bei flüchtigem Hinsehen würden sie daher durchaus echt wirken.
    Arta stand vor einem bis zum Boden reichenden Spiegel und wiederholte immer wieder, »Arta Casilighio existiert nicht mehr.
    Du bist jetzt Estelle Wallace.« Die Autosuggestion wirkte. Sie spürte, wie sich ihre Muskeln entkrampften und ihr Atem langsamer, weniger hastig ging. Dann zog sie die Luft tief ein, straffte die Schultern und ging zur Arbeit.
    Weil sie bemüht war, nicht aufzufallen, kam sie unabsichtlich zehn Minuten zu früh zur Bank, was eigentlich ein erstaunlicher Vorgang für alle, die sie näher kannten, hätte sein müssen, aber es war ein Montagmorgen und fiel daher niemandem auf.
    Sobald sie hinter ihrem Kassenschalter Platz genommen hatte, wurde ihr jede Minute zu einer Stunde, jede Stunde zu einem ganzen Leben. Sie fühlte sich merkwürdig losgelöst von der vertrauten Umgebung, doch die Vorstellung, den
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