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Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe
Autoren: Henning Mankell
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gebe.«
    Sie gingen hinauf zum Haus. Engla nahm nur eine Schöpfkelle voll Wasser und setzte sich an die Feuerstelle. Er ging hinaus, um allein zu sein, wenn er den Brief las.
    Er sah das Kuvert an. Es trug nicht Kristina Tackers Handschrift. Jemand anders hatte es nach dem Diktat von Sara Fredrika geschrieben.
    Er zögerte, ehe er es wagte, das Kuvert zu öffnen. Es war, als würde er Atem holen, bevor er in eine große
    Der Brief mit der unbekannten Handschrift: Ich komme nicht zurück. Du bist noch da, aber nicht für mich. Ich verstehe jetzt, was ich nicht glauben wollte, daß der deutsche Soldat sich nicht das Leben genommen hat, daß Du ihn getötet hast. Warum, weiß ich nicht, ebensowenig wie Du wissen kannst, warum ich verstanden habe, was geschehen ist. Wenn Du diesen Brief liest, bin ich schon mit Laura unterwegs. Du wirst weder sie noch mich je wiedersehen, ich lege jetzt alle Entfernungen, die es gibt, zwischen uns. Mit dem, was es auf der Schäre gibt, kannst Du machen, was du willst. Ich werde nie verstehen, wer Du warst, Du verstehst selber kaum, wer Du bist oder sein wolltest. Kristina, die mir bei diesem Brief nicht helfen konnte, ist krank, ich fürchte um ihren Verstand, vielleicht kann sie nicht mehr in der Wirklichkeit leben. Wenn es ihr nicht bessergeht, wird sie in ein Krankenhaus für Nervenschwache geschickt werden. Mit dem Brief hat mir Anna geholfen, die bei Euch angestellt ist. Ich schicke diesen Brief an die Hebamme auf Kräkmarö, und ich bitte sie zu bleiben, bis sie sicher weiß, daß Du ihn gelesen und verstanden hast, und daß sie mir später darüber berichtet. Sie hat keine Adresse von mir, wird sie aber eines Tages bekommen. Meine Reise hat angefangen, und Du bist nicht mehr dabei.
    Sara Fredrika im November 1915.
    Er las den Brief noch einmal. Dann legte er sich rücklings auf die kalte Klippe und sah direkt in die Wolken hinauf.
    Sie bewegten sich schnell, nach Südwesten.
    Er stand auf, als er Engla aus dem Haus kommen hörte. Wieviel Zeit vergangen war, wußte er nicht.
    »Ich habe den Brief gelesen«, sagte er.
    »Sie bat mich zu bleiben, bis du genau das gesagt hättest. Was in dem Brief steht, weiß ich natürlich nicht.«
    Sie gingen hinunter zur Bucht.
    »Die Wolken sind unruhig«, sagte sie. »Das Novemberwetter wirft sich hin und her wie ein Tier, das in seinem Verschlag um sich tritt. Ich glaube, es wird einen langen Winter mit viel Eis geben.«
    Er antwortete nicht.
    Engla sah ihn an. »Ich habe dich nicht kennengelernt«, sagte sie. »Aber ich habe dein Kind entbunden. Jetzt sind Sara Fredrika und deine Tochter verschwunden. Ich habe das bestimmte Gefühl, daß sie nicht zurückkehren werden. Ich kann es nicht wissen, und es geht mich nichts an. Aber ich muß trotzdem die Frage stellen: Was geschieht mit dir ? Wirst du hier auf der Schäre bleiben ? Überlebst du hier ? Nicht daß du nicht deine Nahrung aus dem Meer holen könntest, das schaffst du schon. Aber die Einsamkeit? Du, der aus einer Großstadt kommt, erträgst du die Einsamkeit, wenn die Stürme ernstlich losbrechen?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Du solltest fortgehen.«
    Er nickte. Sie wartete, ob er noch etwas sagen wollte, aber er starrte nur stumm vor sich hin.
    »Dann verlasse ich dich«, sagte sie. »Du solltest weggehen. Ich glaube nicht, daß du das Leben hier draußen meisterst. Die Steine fressen dich auf.«
    Er sah sie den Draggen einholen und den Schlick abschütteln, der hängengeblieben war. Als sie das Segel gesetzt hatte, drehte er sich um und ging davon.
    Eines Tages kamen die beiden Knechte von Kettilö. Das Gerücht, daß Sara Fredrika mit dem Kind fortgegangen war und ihn zurückgelassen hatte, machte auf den Inseln die Runde. Jemand hatte ein fremdes Segelboot sich Halsskär nähern sehen, es war eine Frau an Bord gewesen. Aber was auf der Schäre vorgefallen war, wußte man nicht. Nur daß der Seevermesser da draußen auf den Klippen wie ein räudiges Tier herumstrich.
    Jemand behauptete, er habe sogar angefangen, auf allen vieren zu gehen.
    Die Knechte hatten Branntwein bei sich und waren eines Sonntags hinausgesegelt, aus purer Neugier. Aber er schüttelte nur den Kopf, als sie ihm Branntwein anboten. Auf ihre Fragen gab er keine Antwort.
    Als sie nach Hause gekommen waren, sagten sie, er sei bestimmt auf allen vieren gegangen, sobald sie ihm den Rücken gekehrt hätten.
    Ein paar Tage vor Weihnachten ritzte er seinen Namen in eine Klippe auf der Nordseite. Die Klippe wurde immer vom
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