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Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe
Autoren: Henning Mankell
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seit bald zehn Jahren verheiratet, wir haben nahe beieinandergelegen.«
    »Wenn ich dir zu nahe komme, fürchte ich, mich zu verbrennen. Du sonderst eine ätzende Säure ab. All diese Unwahrheiten ...«
    Sie unterbrach sich, ohne den Satz zu beenden.
    »Das, was ich am wenigsten verstehe, ist, daß du versucht hast, meinen Vater totzuschlagen.«
    Er verspürte ein gewaltiges Bedürfnis zu sagen, wie es war, daß es die verdammten Weihnachtsessen waren, die Verachtung seines Schwiegervaters für den Kapitän, der seine Tochter geheiratet hatte. Aber noch gab es keinen Raum für Wahrheiten. »Ich habe deinen Vater nicht angegriffen. Ich würde niemals Gewalt anwenden.«
    »Du hast mich geschlagen, gerade eben.«
    »Das war nur, damit du dich beruhigst.«
    »Kannst du nicht ausnahmsweise mal die Wahrheit sagen ? Kannst du es nicht versuchen? Deine Lügen legen sich wie Gewichte um meine Beine.«
    »Ich habe gesagt, wie es war. Ich habe mich hier versteckt, um mich zu besinnen.«
    Die Angst wanderte zwischen ihnen hin und her, wie Wellen ohne Ende. Ab und an warf er einen Blick auf den Pfad. Er wußte, daß die Zeit begrenzt war. Früher oder später würde Sara Fredrika sich fragen, wo er geblieben war.
    »Ich will, daß du wieder heimfährst«, sagte er. »Ich habe den Befehl, meinen Auftrag zu Ende zu führen.«
    »Es gibt doch keinen Auftrag! Ich habe es selbst vom Admiral gehört: Du bist kein Mitglied der schwedischen Marine mehr, du hast keine unabgeschlossenen Aufträge. Ich habe die Worte gehört. Kannst du nicht die Wahrheit sagen?«
    »Du mußt verstehen, daß die Geheimhaltung nicht nur mich selbst betrifft. Er konnte nicht sagen, daß ich noch eine Aufgabe habe.«
    »Was machst du denn auf dieser Schäre? Ich bin zwischen all diesen grauen Inseln herumgesegelt, ich habe kaum einen Menschen gesehen, hier draußen am offenen Meer herrscht der Tod.«
    »Ich werde es dir erzählen, auch wenn ich es eigentlich nicht darf. Ich habe hier ein drahtloses Funkgerät, eine der genialen Erfindungen des Ingenieurs Marconi und des Admi-rals Henry Jackson für die Kommunikation zwischen Schiff und Land oder von einem Befehlshaber zum anderen. Wir probieren in aller Heimlichkeit ein schwedisches System aus, eine Variante des Systems, das die kriegführenden Mächte einsetzen.«
    »Ich verstehe nicht, wovon du redest.«
    »Unsichtbare Wellen, die sich durch die Luft bewegen, die eingefangen und gedeutet werden können. Jeden Tag muß ich zu bestimmten Zeitpunkten an dem Apparat warten, um zu empfangen und zu senden.«
    Sie wog seine Worte ab. »Vielleicht ist es wahr«, sagte sie. »Zeige mir diese Insel, die dein Heim ist, zeige mir die unsichtbaren Wellen, die hier in der Luft herumtanzen. Zeige mir irgend etwas Wahres. Zeige mir, wie du wohnst, in einer Felskluft oder einer Hütte.«
    »Du hast recht«, sagte er. »Eine Hütte, um darin zu wohnen, eine andere für meine Meßgeräte. Ich werde dir alles zeigen.«
    Er grübelte verzweifelt, wie er sich der Situation entziehen könnte. Ihm wurde immer klarer, wo sein Platz eigentlich war.
    Er war auf Halsskär bei Sara Fredrika und Laura zu Hause. Zum ersten Mal in seinem Leben gab es etwas, das er nicht verlieren wollte. Er war ein Fremder bei Kristina Tacker und ihren Porzellanfiguren, in den warmen und kalten Zimmern in Stockholm. All die Jahre, die er mit ihr verlebt hatte, hörten auf zu existieren. Das war die erste Lüge, dachte er, die konnte ich nie wahrnehmen oder kontrollieren. Wir hatten nichts gemeinsam, wir haben uns nur in einer Einbildung von Liebe getroffen.
    Aber nicht einmal das ist wahr, dachte er. Ich kann nur für mich selbst sprechen. Sie muß etwas anderes empfunden haben. Sie ist nicht nur gekommen, um eine Lüge zu enthüllen, sondern auch, um zu verstehen, wie sie mir so viel Liebe geben konnte.
    Sie hatte ihr Licht direkt auf eine kahle Felswand gerichtet, die nie warm wurde. In all den Jahren unseres Zusammenlebens habe ich selbst versucht, sie zu zähmen.
    Es ist mir nicht gelungen. Sie ist wild geblieben, die Porzellanfiguren haben mich getäuscht. Sie hat noch ganz andere Seiten, als ich ahnen konnte. Unter ihrer ruhigen, fast trägen Oberfläche hat sich jemand anderes verborgen.
    Er erinnerte sich an den Weihnachtsmarkt, als sie auf den Mann losging, der sein Kind schlug. Er hatte nicht die richtigen Schlußfolgerungen daraus gezogen, dachte er. Schon damals hätte er sehen müssen, daß sie ein Mensch war, der stärker war als er
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