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Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe
Autoren: Henning Mankell
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ein weidwund geschossenes Tier. Er war es, der geschossen hatte, er hatte ihr nicht den Gnadenschuß versetzen können, er hatte sie nur verwundet. Sara Fredrika zog sie heraus, Kristina Tacker leistete keinen Widerstand. Trotz der Dämmerung konnte er das Blut sehen, das von ihrem Gesicht rann, wo sie sich an den Dornen gestochen hatte. Sie hing wie tot in Sara Fredrikas starken Armen.
    Er stand regungslos da. Die Katze hielt sich immer noch abwartend auf Distanz. Vier Meter, dachte er. Die Schatten machen es schwer, auf den Zentimeter genau zu schätzen. Aber die Katze sitzt vier Meter von mir entfernt. Kristina
    Tacker und Sara Fredrika sind noch einige Meter weiter weg. Aber in Wirklichkeit ist der Abstand zu ihnen unendlich, und er wächst mit jeder Minute. Die Ankerseile sind gekappt, die Strömung und der Wind führen uns in verschiedene Richtungen.
    Er dachte an das Eis. Die Rinnen, die sich öffneten, Menschen, die in der Winterkälte auf den Eisschollen in den Untergang trieben.
    Vor allem aber dachte er an das Treibnetz, das er im Sommer des letzten Jahres gesehen hatte, das Treibnetz mit den toten Tauchenten und den Fischen. Da hatte er es als ein Bild der Freiheit gesehen. Aber er war nicht das Treibnetz, er war einer der toten Fische. Was er gesehen hatte, war sein eigener Untergang.
    Er begann den Pfad entlangzulaufen, flüchtete von dort. Er stolperte und schlug mit dem Gesicht gegen einen Stein, die Lippen platzten auf. Es war, als hätte die Schäre selbst ihn in ihren Feind verwandelt und wäre zum Angriff übergegangen.
    Das Segelboot lag draußen in der Bucht. Er watete in das kalte Wasser hinaus und kletterte an Deck. Aber die Segel waren am Mast festgezurrt, eine abgeschlossene Kette hinderte ihn daran, die Segel zu lösen. Auch die Ruder waren angekettet, sie hatte alles vorbereitet, sie hatte ihn allzuoft fortgehen sehen. Sie hatte es geschafft, seine Flucht zu verhindern, bevor sie im Wasser standen und einander anschrien. Er versuchte, die Kette mit einem Hammer aufzubrechen, der in einem Fach unter der Ducht lag. Die Kette rührte sich nicht, er sah, daß er das Ruder zerbrechen würde, wenn er weitermachte. Er warf den Hammer ins Meer und ließ sich auf die Bank sinken. Rings um ihn her war alles still.
    Unter ihm, unter Kristina Tackers Segelboot, betrug die Tiefe 2 Meter und 25 Zentimeter.
    Die Nacht verbrachte er im Boot.
    Die Einsamkeit, das waren die Planken, die ihn umgaben. Die nassen Sachen hatte er mit ihren Kleidern vertauscht, die er im Vorschiff in einem Sack gefunden hatte. In einen ihrer Unterröcke gekleidet, erwartete er das Ende der Geschichte. Nach der langen Nacht, als das Licht wiederzukehren begann, sah er die Klippen wie riesige Bausteine für eine Kathedrale, die darauf wartete, erbaut zu werden.
    Irgendwann in der Nacht war er eingeschlafen. Er träumte von Treibgut. Er ging einen Strand entlang und suchte, der Blasentang war ganz durchsichtig, der Geruch nach Schlick sehr stark. Schließlich fand er, was er suchte, einen Splitter von einem Heck. Der Holzsplitter war er selbst, aus seinem Zusammenhang gehauen, fortgetrieben.
    Sein erster Gedanke, als er aufwachte, war, daß der Boden in ihm angefangen hatte, sich zu einer unendlichen, unmeßbaren Tiefe zu öffnen.
    Ich weiß, wie man eine Lüge erschafft, dachte er. Aber es ist mir nicht gelungen, in der Landschaft zu leben, welche die Lüge erschuf. Der Betrüger lebt ein Leben, der Betrug ein anderes.
    190
    Er hörte Schritte auf dem Pfad. Es war Sara Fredrika, die kam. Das Licht der Dämmerung war immer noch grau, er fror, wie er da im Boot hockte.
    »Komm an Land«, rief sie.
    Er antwortete nicht, und er rührte sich nicht.
    »Sie ist krank. Wenn sie hierbleibt, wird sie sterben. Es ist mir gleich, was du getan hast. Aber sie braucht Hilfe.«
    Er watete an Land, seine feuchten Kleidungsstücke auf dem Kopf. Das kalte Wasser nahm ihm den Atem. Er begann zu schluchzen, aber sie schüttelte nur den Kopf angesichts seiner Tränen. Ihre Haare waren zerzaust, so wie damals, als er sie heimlich betrachtet hatte.
    Sie hielt Abstand von ihm. »Ich weiß alles«, sagte sie. »Sie hat es mir erzählt. Ich kann es ertragen, auch wenn ich Senker an deinem Körper befestigen und dich hinaus in die Tiefe schleppen sollte. Ich kann es ertragen. Aber sie nicht. Das Kind war zuviel für sie. Eine einzige Frage habe ich, bevor mir die Worte ausgehen. Wie konntest du beiden Töchtern denselben Namen geben?«
    Er antwortete
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