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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden
Autoren: Nele Neuhaus
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Frankfurt geführt. Hier kannte ihn niemand, und er hatte insgeheim gehofft, dass ihm der tröstlich vertraute Ablauf der heiligen Messe sein seelisches Gleichgewicht zurückgeben würde, aber dem war nicht so. Ganz im Gegenteil. Aber wie konnte er das auch erwarten, nachdem er jahrelang keine Kirche mehr betreten hatte? Es kam ihm vor, als müsste ihm jeder ansehen, was er in der vergangenen Nacht getan hatte. Das war keine jener Sünden, die man im Beichtstuhl loswerden und mit zehn Vaterunser wiedergutmachen konnte! Er war nicht würdig, hier zu sitzen und auf Gottes Vergebung zu hoffen, denn seine Reue war nicht echt. Das Blut stieg ihm ins Gesicht, und er schloss die Augen, als er daran dachte, wie sehr es ihm gefallen, wie sehr es ihn berauscht und beglückt hatte. Noch immer sah er sein Gesicht vor sich, wie er ihn angesehen hatte und schließlich vor ihm auf die Knie gegangen war. Mein Gott. Wie hatte er das nur tun können? Er legte seine Stirn auf seine gefalteten Hände und spürte, wie eine Träne über seine unrasierte Wange lief, als ihm die ganze Tragweite bewusst wurde. Nie wieder würde sein Leben so sein wie vorher. Er biss sich auf die Lippen, öffnete die Augen und betrachtete seine Hände mit einem Anflug von Abscheu. In tausend Jahren könnte er diese Schuld nicht abwaschen. Das Schlimmste jedoch war, dass er es wieder tun würde, sobald sich eine passende Gelegenheit ergeben sollte. Wenn seine Frau, seine Kinder oder seine Eltern je davon erfuhren – sie würden ihm nie verzeihen. Er stieß einen so abgrundtiefen Seufzer aus, dass sich zwei der alten Mütterchen aus den vorderen Reihen erstaunt nach ihm umsahen. Rasch senkte er den Kopf wieder auf die Händeund verfluchte seinen Glauben, der ihn zu einem Gefangenen seiner anerzogenen Moralvorstellungen machte. Aber wie er es auch drehen und wenden mochte, es gab keine Entschuldigung, solange er sein Tun nicht ehrlich bereute. Ohne Reue gab es keine Buße, kein Vergeben.
     
    Der alte Mann kniete auf dem spiegelblanken Marmorboden in der Eingangshalle des Hauses, keine drei Meter von der Haustür entfernt. Sein Oberkörper war nach vorne gekippt, sein Kopf lag in einer Lache geronnenen Blutes. Bodenstein mochte sich nicht vorstellen, wie sein Gesicht aussah, oder das, was davon übrig war. Die tödliche Kugel war in den Hinterkopf eingetreten, das kleine dunkle Loch wirkte täuschend unscheinbar. Der Austritt der Kugel hingegen hatte beträchtlichen Schaden angerichtet. Blut und Hirnmasse waren durch den ganzen Raum gespritzt, klebten an der dezent gemusterten Seidentapete, an den Türrahmen, den Bildern und dem großen venezianischen Spiegel neben der Eingangstür.
    »Hallo, Chef.« Pia Kirchhoff trat aus der Tür an der Stirnseite des Flures. Sie gehörte seit knapp zwei Jahren zum Team des K11 der Regionalen Kriminalinspektion in Hofheim. Obwohl sonst eine ausgesprochene Frühaufsteherin, sah sie an diesem Morgen ziemlich verschlafen aus. Bodenstein ahnte, weshalb, verkniff sich aber eine Bemerkung und nickte ihr zu: »Wer hat ihn gefunden?«
    »Seine Haushälterin. Sie hatte gestern ihren freien Abend, kam heute Morgen gegen halb acht ins Haus.«
    Die Kollegen vom Erkennungsdienst trafen ein, warfen von der Haustür aus einen kurzen Blick auf die Leiche und zogen sich draußen weiße Einwegoveralls und -überziehschuhe an.
    »Herr Hauptkommissar!«, rief einer der Männer, und Bodenstein wandte sich zur Tür.
    »Hier liegt ein Handy.« Der Beamte fischte mit seiner behandschuhtenRechten ein Mobiltelefon aus dem Blumenbeet neben der Haustür.
    »Packen Sie es ein«, erwiderte Bodenstein. »Vielleicht haben wir Glück, und es gehört dem Täter.«
    Er drehte sich um. Ein Sonnenstrahl, der durch die Haustür fiel, traf den großen Spiegel und ließ ihn für einen Moment aufleuchten. Bodenstein stutzte.
    »Haben Sie das hier gesehen?«, fragte er seine Kollegin.
    »Was meinen Sie?« Pia Kirchhoff kam näher. Sie hatte ihr blondes Haar zu zwei Zöpfen geflochten und nicht einmal die Augen geschminkt, ein sicheres Indiz dafür, dass sie es heute Morgen eilig gehabt hatte. Bodenstein deutete auf den Spiegel. Mitten in die Blutspritzer war eine Zahl gemalt worden. Pia kniff die Augen zusammen und betrachtete die fünf Ziffern eingehend.
    »1-6-1-4-5. Was hat das zu bedeuten?«
    »Ich habe keinen blassen Schimmer«, gab Bodenstein zu und ging vorsichtig, um keine Spuren zu zerstören, an der Leiche vorbei. Er betrat nicht sofort die Küche, sondern
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