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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden
Autoren: Nele Neuhaus
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schon aufgebügelt, auch das Hemd.«
    »Ja, ja. Danke.«
    »Soll ich die Alarmanlage einschalten?«
    »Nein, das mache ich später schon selbst. Gehen Sie nur. Viel Spaß.«
    »Danke.« Das klang erstaunt. Er hatte ihr noch nie viel Spaß gewünscht. Goldberg hörte die Absätze ihrer Schuhe über den Marmorboden der Eingangshalle klappern, dann fiel die schwere Haustür ins Schloss. Die Sonne war hinter den Bergen des Taunus verschwunden, es dämmerte. Er starrte mit düsterer Miene hinaus. Da draußen machten sichMillionen junger Menschen auf den Weg zu Verabredungen, zu unbeschwertem Vergnügen. Früher einmal hatte er zu ihnen gehört, er war ein gutaussehender Mann gewesen, wohlhabend, einflussreich, bewundert. In Elviras Alter hatte er keinen Gedanken an die Greise verschwendet, die mit schmerzenden Knochen ständig fröstelnd in ihren Sesseln saßen, um mit einer Wolldecke über arthritischen Knien dem letzten großen Ereignis in ihrem Leben entgegenzudämmern: dem Tod. Kaum zu fassen, dass es ihn nun auch erwischt hatte. Jetzt war er ein solches Fossil, ein Überbleibsel aus grauer Vorzeit, dessen Freunde, Bekannte und Weggefährten ihm längst vorausgegangen waren. Drei Menschen gab es noch auf dieser Welt, mit denen er über früher sprechen konnte, die sich an ihn erinnerten, als er noch jung und stark gewesen war.
    Der Klang der Türglocke riss ihn aus seinen Gedanken. War es schon halb neun? Wahrscheinlich. Sie war immer pünktlich, genau wie diese Edith. Goldberg erhob sich mit einem unterdrückten Stöhnen aus dem Sessel. Sie hatte vor der Geburtstagsfeier morgen noch einmal dringend mit ihm sprechen wollen, unter vier Augen. Kaum zu glauben, dass sie auch schon fünfundachtzig wurde, die Kleine. Er durchquerte mit steifen Schritten Wohnzimmer und Eingangshalle, warf einen kurzen Blick in den Spiegel neben der Tür und glättete mit den Händen sein immer noch ziemlich volles weißes Haar. Auch wenn er wusste, dass sie sich mit ihm streiten würde, so freute er sich, sie zu sehen. Er freute sich immer. Sie war der wichtigste Grund, weshalb er nach Deutschland zurückgekehrt war. Mit einem Lächeln öffnete er die Haustür.

Samstag, 28. April 2007
    Oliver von Bodenstein nahm den Topf mit der heißen Milch vom Herd, rührte zwei Löffel Kakaopulver hinein und füllte das dampfende Getränk in eine Kanne. So lange Cosima stillte, verzichtete sie auf ihren geliebten Kaffee, und er zeigte sich gelegentlich solidarisch. Ein heißer Kakao war auch nicht zu verachten. Sein Blick begegnete dem von Rosalie, und er grinste, als er die kritische Miene seiner neunzehnjährigen Tochter sah.
    »Das sind mindestens zweitausend Kalorien«, sagte sie und rümpfte die Nase. »Wie könnt ihr nur!«
    »Da siehst du mal, was man seinen Kindern zuliebe alles tut«, erwiderte er.
    »Auf meinen Kaffee würde ich sicher nicht verzichten«, behauptete sie und nahm demonstrativ einen Schluck aus ihrer Tasse.
    »Abwarten.« Bodenstein nahm zwei Porzellanbecher aus dem Schrank und stellte sie neben die Kakaokanne auf ein Tablett. Cosima hatte sich noch einmal hingelegt, nachdem das Baby sie bereits um fünf Uhr aus dem Bett gescheucht hatte. Ihr aller Leben hatte sich seit der Geburt von Sophia Gabriela im vergangenen Dezember komplett verändert. Der erste Schreck über die Nachricht, dass Cosima und er noch einmal Eltern werden würden, war zuerst einer glücklichen Vorfreude, dann aber einiger Besorgnis gewichen. Lorenzund Rosalie waren dreiundzwanzig und neunzehn, längst erwachsen und mit der Schule fertig. Wie würde es sein, das alles noch einmal von vorne durchzumachen? Waren er und Cosima überhaupt dazu in der Lage? Würde das Kind gesund sein? Bodensteins heimliche Sorgen hatten sich als unbegründet erwiesen. Bis zum Tag vor der Niederkunft war Cosima ihrer Arbeit nachgegangen, das positive Ergebnis einer Fruchtwasseruntersuchung hatte sich bei Sophias Geburt bestätigt: Die Kleine war kerngesund. Und jetzt, nach knapp fünf Monaten, fuhr Cosima wieder täglich in ihr Büro, das Baby im MaxiCosi immer dabei. Eigentlich, dachte Bodenstein, war alles viel einfacher als bei Lorenz und Rosalie. Zwar waren sie damals noch jünger und robuster gewesen, aber sie hatten nur wenig Geld und eine kleine Wohnung gehabt. Außerdem hatte er gespürt, dass Cosima darunter litt, ihren heißgeliebten Beruf als Fernsehreporterin aufgeben zu müssen.
    »Warum bist du eigentlich so früh auf den Beinen?«, fragte er seine ältere Tochter.
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