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Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde

Titel: Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
Autoren: Andreas Winkelmann
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möglich war. Stoßweise und gehetzt ging ihr Atem, ihre Brust hob und senkte sich in unnatürlichem Rhythmus. Vor sich auf der Scheibe sah sie deutlich vier Finger und einen Daumen. Gespreizt, riesig, eine Kralle.
    Plötzlich schoss mit hoher Geschwindigkeit eine einzelne Lokomotive vorbei. Kaum zwei Sekunden war sie zu sehen. Kurz darauf hoben sich die Halbschranken.
    Der Gang war schon eingelegt, sie musste nur noch Gas geben. Sie überwand ihre Starre, drückte aufs Pedal, und der Wagen sprang förmlich über den Bahnübergang.
    Der Motor heulte gequält, weil sie vergaß hochzuschalten. Erst als der Wagen nicht mehr beschleunigte, legte Melanie den zweiten Gang ein und warf einen Blick in den Rückspiegel. Der Bahnübergang lag vielleicht zwei-, dreihundert Meter entfernt. Hinter ihr war nur Dunkelheit.
    Für einen Moment glaubte sie, in weiter Entfernung ein schwaches, unruhiges Licht zu erkennen.
    Vielleicht das einer Fahrradlampe.
     
    Dreiundzwanzig Uhr!
    Detlef Dreyer verfolgte mit den Augen den roten Sekundenzeiger der Funkuhr an der Wand. Seit er vor einer Viertelstunde den Fernseher ausgeschaltet hatte, konzentrierte er sich auf das leise Ticken, das in der absolut stillen Wohnung ungewöhnlich laut klang. Auch lief das Uhrwerk langsamer als sonst. Schon merkwürdig, wie viel Zeit einem zur Verfügung stand, wenn man sie nicht brauchte.
    Dreiundzwanzig Uhr vorbei! Die Grenze, bis zu der er
bereit gewesen war, regungslos zu warten, war überschritten. Jasmin war seit einer halben Stunde überfällig.
    Nicht ungewöhnlich bei einem 17-jährigen Mädchen sollte man meinen, zumal sie ihren ersten richtigen Freund besuchte, aber Detlef war sich sicher, in seiner Eigenschaft als Vater die Grenzen sehr deutlich gezogen zu haben. Es war der Preis, den Jasmin zu zahlen bereit war, damit sie allein mit dem Fahrrad nach Friedburg fahren durfte. Vom Papa mit dem Wagen hingebracht zu werden war ihr zu peinlich.
    Das musste man sich mal vorstellen.
    Peinlich!
    Die Sekunden verrannen und taten es auch wieder nicht. Eine halbe Stunde! Grund genug, sich zu sorgen?
    Ein eindeutiges Ja! Der Heimweg führte durch den Wald. Unbeleuchtet. Was da alles passieren konnte. Jetzt, im Nachhinein, fragte Detlef sich, wie er das nur hatte erlauben können. Gedankenlosigkeit aufgrund von Gewöhnung, das war es. Sie lebten seit zwanzig Jahren in Mariensee, Jasmin war hier geboren und aufgewachsen. Die sechs Kilometer durch den Wald mit dem Fahrrad zu fahren, war völlig normal für sie.
    Trotzdem. Es war gedankenlos gewesen!
    Detlef Dreyer erhob sich aus dem Sessel, nahm sein Handy, ging über den kurzen Flur zur Haustür und zog sie auf.
    Es war still im Ort, wie immer um diese Zeit. Die Luft war nicht mehr ganz so kalt, und er bildete sich ein, den nahenden Frühling spüren zu können. Vor kurzem hatte es geregnet, Feuchtigkeit lag in der Luft, und gegen Morgen würde es sicher Nebel geben.
    Detlef ging in Hausschuhen auf den Hof hinaus. Der Kies knirschte unter seinen Füßen. Wo die lange, gewundene
Auffahrt in die Dorfstraße mündete, blieb er stehen. Von dort vorn konnte er ein gutes Stück der Straße einsehen, die in einem großen Oval durchs ganze Dorf führte. Es war die einzige, an ihr lagen alle vierzig Grundstücke der kleinen Waldgemeinde, deren Einwohner sorgfältig darüber entschieden, wer hier leben durfte und wer nicht. Ohne persönliche Bindung bekam hier niemand einen der wenigen Bauplätze.
    Wie sehr hatte Detlef gehofft, irgendwo in der Dunkelheit das unruhige Flackern einer Fahrradlampe zu entdecken. Doch da war nichts. Nur stille Nacht.
    Er wählte die Nummer seiner Tochter, hielt sich das Handy ans Ohr und wartete. Nach dem siebten Klingeln meldete sich die verdammte Mailbox.
    Okay, jetzt machte er sich ernsthaft Sorgen! Auch dafür, dass Jasmin nicht an ihr Handy ging, konnte es natürlich verschiedene, nicht besonders aufregende Gründe geben. Theoretisch zumindest. Aber eigentlich waren Jugendliche heutzutage immer und überall per Handy zu erreichen, da war auch seine Jasmin keine Ausnahme. Nicht erreichbar zu sein hatte es auf Platz eins in die Riege der Todsünden unter Teenagern geschafft.
    Detlef Dreyer traf eine Entscheidung.
    Und wenn es seiner Tochter bis an ihr Lebensende peinlich sein sollte, er würde jetzt den besorgten Vater spielen. Was hieß spielen? Er war es!
    Mit schnellen Schritten lief er ins Haus zurück und nahm die kleine Post-it-Notiz vom Kühlschrank, die er Jasmin am frühen
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