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Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde

Titel: Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
Autoren: Andreas Winkelmann
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verriegelten alle vier Türen des Wagens automatisch.
    Schließlich erreichte sie die Halbschranke und stoppte notgedrungen. Sie hätte weiterfahren können, es waren ja nur Halbschranken, kein Problem, drum herumzufahren. Aber wie immer, wenn sie diesen Gedanken erwog, wurde ihr Blick geradezu schmerzlich angezogen von dem Holzkreuz am rechten Fahrbahnrand, gleich neben dem Betonsockel der Schranke.
    Ein Kreuz. Vier Namen.
    Vier Freunde.
    Verbrannt.
    Erst als der nächste Zug herandonnerte, schaffte Melanie Meyer es, ihren Blick abzuwenden von dem Kreuz, in dessen langsam verwitterndes Holz die Namen ihrer Freunde eingraviert waren. An jenem Abend vor etwas mehr als einem Jahr hätte sie mit in dem Wagen sitzen sollen, und sie verdankte ihr Leben nur dem Umstand, dass sie mit Fieber im Bett gelegen und nicht mit zu der Party gekonnt hatte. Jetzt blieb ihr nichts anderes mehr, als alle zwei Wochen einen kleinen Strauß in die Plastikvase zu stecken, die vor dem Kreuz im Boden eingelassen war.
    Jenny!
    Neun Jahre gemeinsame Schulzeit. Neun Jahre alle Gedanken, Geheimnisse, Wünsche und Sehnsüchte geteilt. Und von einer Sekunde auf die andere war alles ausgelöscht.
Es tat noch immer weh. Nicht mehr so sehr, aber ganz verschwinden würde es wohl nie.
    Der zweite Zug war vorüber.
    Melanie legte den Gang ein und starrte zur Ampel empor. Mittlerweile wusste sie genau, dass dem Öffnen der Schranken ein kurzes Zucken des roten Lichts vorausging. Aber wie es so oft gerade nachts der Fall war, folgten dem zweiten Zug noch weitere. Die Schranke blieb unten, die Ampel streute weiter ihr blutiges Licht in die Nacht. Vier, fünf Güterzüge waren zu dieser Zeit nichts Ungewöhnliches. Das bedeutete Wartezeiten von manchmal zehn Minuten. Zeit genug eigentlich, den Motor abzustellen und die Umwelt zu schonen, so wie es auch das Schild dort oben über der Ampel anmahnte. Niemals würde Melanie hier nachts den Motor abstellen.
    Es war ein Unfall gewesen damals, ein schrecklicher Unfall. Jugendlicher Übermut, Alkohol und diese ewig nervende Schranke hatten dazu geführt.
    Aber Arno hatte nie getrunken, wenn er fuhr. Und Arno war immun gewesen gegen Erkans Sticheleien. Arno war immer der Vernünftigste von ihnen gewesen.
    Warum war Arno auf die Gleise gefahren?
    Es war diese eine Frage, die Melanie seitdem umtrieb, immer dann, wenn sie hier warten musste. Zweimal die Woche fuhr sie abends zum Aerobic, folglich stand sie zweimal die Woche in der Dunkelheit vor der Schranke, abgesehen von den paar Ausnahmen, wenn sie gerade mal nicht unten war.
    Bewegte sich da etwas am Waldrand?
    Melanie schaute genauer hin und meinte schon, sich getäuscht zu haben, als sie es wieder sah. Da bewegte sich etwas Dunkles im Dunkeln, so als sei ein Stück der Nacht lebendig geworden.

    Was war das?
    Der Ast einer Fichte im Wind?
    Ein Reh?
    Davon gab es hier jede Menge, und sie hatten sich längst an die Menschen, Autos und Züge gewöhnt, so dass sie oft sehr nah an den Straßenrand kamen. Melanie strengte sich an, konnte aber nichts erkennen. Dort, wo das Licht der Autoscheinwerfer nicht hinreichte, war es stockdunkel.
    Doch plötzlich löste sich ein Teil dieser Dunkelheit vom Waldrand. Melanie riss die Augen auf, ihr Herz setzte kurz aus. Ein großes schwarzes Etwas – eindeutig kein Reh, von der Kontur her mehr ein Bär – schlich auf ihren Wagen zu.
    »Nein … bitte, nein!«, entfuhr es Melanie flüsternd.
    Hektisch riss sie den Kopf herum und starrte zur Ampel hinauf.
    Immer noch rot!
    Bitte, lieber Gott, lass sie umspringen, bitte, bitte, bitte!
    Der Schatten war heran, stand plötzlich genau neben der Fahrertür und beugte sich hinunter.
    Stocksteif saß Melanie hinterm Lenkrad. Sie wagte es nicht hinauszusehen. Wenn sie in das grässliche Gesicht dieses Etwas blickte, würde ihr Herz einfach aufhören zu schlagen, das wusste sie.
    Das rote Licht der Ampeln floss wie Öl über die glatte Haut des Etwas. Jetzt trat es seitlich vor die Windschutzscheibe. Melanie gab einen erstickten Laut von sich, fieberhaft suchte sie im Wageninneren nach etwas, das sie als Waffe verwenden könnte. Da war nichts. Doch, die leere Mineralwasserflasche, die sie nach dem Training ausgetrunken hatte. Sie griff danach, stieß sie in ihrer Panik aber nur vom Sitz, so dass sie klappernd im dunklen Fußraum verschwand.

    »Scheiße!«
    Eine Hand klatschte auf die Windschutzscheibe.
    Melanie schrie auf, zuckte zurück und presste sich so tief in den Sitz, wie es eben
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