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Theres

Theres

Titel: Theres
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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sie losfuhren, hinter den spiegelnden Fenstern des Nachbarhauses Bubis ängstlich huschendes Gesicht. Aufs Neue eingesperrt vom Vater, dem »Denunzianten«, der jetzt, wo die Russen im Anmarsch waren, wohl um sein Leben fürchtete. Doch in der Erinnerung noch immer der tröstliche Lichtpfad, der sich vor ihnen öffnete, wenn sie morgens das feuchte Gras betraten, die Spiegel im Gras; das sonntägliche Glockenläuten, Renate am Klavier, eine einsame Stimme, die Schubert singt:
    Ich möchte ziehn in die Welt hinaus,
    Hinaus in die weite Welt;
    Wenn’s nur so grün, so grün nicht wär’,
    Da draußen in Wald und Feld!
    Schlägt die Augen auf. Hat das Gefühl, als bewege sich die Zelle. Doch die Zelle bewegt sich nicht. Sie selbst wird bewegt. Das Licht bleibt.
    Sie steht auf; setzt sich an den Schreibtisch; schreibt:
    Wachte heute morgen mit dem Gefühl auf, die Zelle fährt.
    Machte die Augen auf: Die Zelle fährt. Erst nachmittags, als die Sonne hereinschien, blieb sie plötzlich stehen.
    Entsetzen. Mache ich die Augen zu, wird sie von Neuem fahren.
    Rasende Aggressivität, für die es kein Ventil gibt. Das ist das Schlimmste. Klares Bewusstsein, dass man keine Überlebenschance hat. Völliges Scheitern, das zu vermitteln. Besuche hinterlassen nichts. Eine halbe Stunde danach kann man nur noch mechanisch rekonstruieren, ob der Besuch heute oder vorige Woche war.
    Das Gefühl, Zeit und Raum sind ineinander verschachtelt …
    Diese Worte beruhigen dennoch. Als reichte es, dem Schmerz einen Namen zu geben, damit er zurückweicht. Sie legt sich wieder hin. (Auf die Matratze auf dem Bett.) Die Arme zur Seite gestreckt, die Augen geschlossen. Wenn sie wenigstens dieses verdammte Licht ausschalten würden.
    Aber das Licht bleibt.

Der Prozess geht weiter
    (Der Prozess hat bereits begonnen)

    Führen Sie die Angeklagten herein.
    Frau Meinhof. Erheben Sie sich!
    Sie haben kein Recht, mich zu zwingen. Ich –
    Verlesen Sie die Anklagepunkte.
    Ich klage an:
    ANDREAS BERND BAADER , berufslos, die Studentin GUDRUN ENSSLIN , die Journalistin ULRIKE MEINHOF , den Diplomsoziologen JAN-CARL STEFAN RASPE , gemeinschaftlich durch neun selbständige Handlungen
    a.) heimtückisch und mit gemeingefährlichen Mitteln in zwei Fällen insgesamt vier Menschen getötet und in weiteren Fällen mindestens 54 Menschen zu töten versucht zu haben,
    b.) in Tateinheit hiermit durch Sprengstoffe Explosionen herbeigeführt und dadurch Leib und Leben anderer sowie fremde Sachen von besonderem Wert gefährdet zu haben … tateinheitlich eine Vereinigung gegründet zu haben, deren Zwecke darauf gerichtet sind, strafbare Handlungen zu begehen …
    Auch nach der Verhaftung gaben die Angeschuldigten ihre Ziele nicht auf. Noch aus der Haft heraus versuchten sie, die Gruppenarbeit neu zu organisieren.
    Lüge. Alles Lüge.
    Die Angeklagten können Platz nehmen.

»Real Time«
    (Berlin-Dahlem, Oktober 1968)

    Lüge? – Ja, weil keine Beschreibung früherer Handlungen, so detailliert sie auch sein mag, der Wahrheit dessen, was geschah, vollkommen gerecht werden kann.
    Sie könnte sagen: Nichts von alledem, was sich ereignet hat – die Befreiung Baaders, die Flucht nach Jordanien, die Organisation des Metropolenproletariats zur Stadtguerilla –, war streng genommen »beabsichtigt«: was gleichbedeutend damit wäre, die historische Berechtigung der Aktionen der Gruppe in Abrede zu stellen.
    Sie könnte sagen: Bei keiner der Aktionen, die mit solch nüchterner Präzision durchgeführt wurden – dem Banküberfall in Kaiserslautern, dem Bombenattentat auf die amerikanischen Militärstützpunkte in Frankfurt und Heidelberg –, waren die Folgen beabsichtigt: was gleichbedeutend damit wäre, das Zielgerichtete im Handlungsprogramm der Gruppe in Abrede zu stellen.
    Dennoch sind beide Behauptungen in gewisser Weise richtig. Die Lektion von Marx und Hegel: Es gibt keine Handlungen, die von Natur aus rational sind. Eine Handlung geschieht, oder sie geschieht nicht. Inwieweit die Handlung als rational beurteilt werden kann oder nicht, hängt stets davon ab, wer die Beurteilung vornimmt und wer die Möglichkeit hat, sie ausgehend von seinen ideologischen Prinzipien einzugliedern oder abzulehnen. Die Lektion der Geschwister Scholl: Fragt nicht, wer die Handlung ausgeführt hat, fragt, welchem Zweck die Handlung dient. Und deren Tun war, angesichts der damals herrschenden Voraussetzungen, alles andere als »rational«. Wenn es zu etwas beitrug, dann wohl eher zur
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