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Theres

Theres

Titel: Theres
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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einziges Mal auf eine vollentwickelte Industriegesellschaft angewandt worden.
    Antwort auf die Frage (Andreas Baader, aus dem Gefängnis geschmuggelte Mitteilung, 1972):
    Am besten schafft ihr mir vier bis fünf Kilo Sprengstoff her, ein Stück Sprengschnur, zwei Sprengkapseln. Die Menge müsst ihr durch Versuche an alten Mauern, Burgen oder Ähnlichem testen. Es gibt ja genug davon, die einsam liegen.
    *
    Juni 1972. Ulrike Meinhof wird in Hannover festgenommen. Bei der Festnahme ist sie gänzlich schwarzgekleidet, ihr dickes Haar ist kurzgeschnitten und struppig. In ihrem Gepäck verwahrt sie zwei Handgranaten, eine Automatikpistole und einen Kosmetikkoffer, der eine 4,5-Kilo-Bombe enthält. In der Handtasche befindet sich auch ein Exemplar des Magazins Stern (18/6 1972). Die Mittelseite dominiert das Röntgenbild eines Frauenschädels. Auf dem Röntgenbild zeichnet sich hinter der einen Augenhöhle deutlich eine Geschwulst ab, die Geschwulst ihrerseits ist mit drei Pfeilen und dem Wort Silberklammer markiert. Dieses Röntgenbild ist zunächst das Einzige, was die Festgenommene mit der gesuchten Terroristin verbindet. Die Frau in Hannover läuft bei der Festnahme unter dem Namen Dr. Maria Luckow , bekannt für eine kürzlich in Hamburg vorgelegte Dissertation über den Walbestand im Nördlichen Eismeer.

Identifikation und Versuch
einer Gegenüberstellung

    (Versuch einer Gegenüberstellung)
    Ein ausgekühlter, kahler Raum. Hinter zwei Polizisten wird die Inhaftierte Ulrike Meinhof nebst den Füllpersonen hereingeführt. Allesamt haben kleine Pappschilder mit handgeschriebenen Ziffern um den Hals. Die Zeugen sitzen in einem angrenzenden Raum, hinter Spiegelwänden verborgen. Die draußen Sitzenden können hineinsehen, die sich drinnen befinden können nicht hinaussehen. Die Inhaftierte bricht sofort aus dem Glied, dreht sich zu den unsichtbaren Zeugen um und schreit: Ich bin die Meinhof, mich sollt ihr identifizieren! Und wird dann, wild um sich schlagend, zwischen zwei kräftigen Polizisten abgeführt.
    Eine Notiz, an den Leiter der Voruntersuchung weiterbefördert: Das Verhalten der Inhaftierten bei der Gegenüberstellung macht es gänzlich unmöglich zu sagen, ob ihr Handeln als vorzeitig abgegebenes Geständnis oder als Versuch gedeutet werden muss, die Gegenüberstellung selbst zu sabotieren …
    Erst müssen Beweise gegen dich vorliegen, dann darfst du gestehen.
    *
    (Aus den Personalakten)
    ULRIKE MARIE MEINHOF
    geb.: 7. Oktober 1934 in Oldenburg
    Vater: Doktor WERNER MEINHOF (geb. 1901), Lehrer, Schulinspektor, später von den Nazis zum Museumsdirektor in Jena ernannt; verstorben (1940) an Krebs
    Mutter: INGEBORG MEINHOF (geborene GUTHARDT ), verstorben (1949), ebenfalls an Krebs
    Das Sorgerecht für die zwei Waisen WIENKE und ULRIKE wurde nach dem Tod der Eltern von einer gewissen RENATE RIEMECK (geb. 1920) übernommen, Kunsthistorikerin, später bekannte Schriftstellerin mit stark ausgeprägten sozialistischen Ansichten
    Heiratet (1961) KLAUS RAINER RÖHL (geb. 1928), Chefredakteur einer Zeitschrift und Linksaktivist, zwei Kinder, REGINE und BETTINA (Zwillinge); Auflösung der Ehe (1968). Einige Angaben über einen Bruder , in WERNER und INGEBORG MEINHOFS Ehe oder außerhalb geboren; konnte nicht ausfindig gemacht werden.
    *
    (Was aber ist ein Mensch?)
    1. ZEUGE : Die Biographie eines Menschen kann nur auf vorhandenen Fakten aufbauen. Was keinen Platz hat in diesen Fakten oder von ihnen nicht bestätigt wird, existiert nicht. Auf diese Weise wird der Menschen festgesetzt.
    2. ZEUGE : Man kann sagen: Sie wuchs in einem bürgerlichen Zuhause auf. Ihr Vater – Museumsdirektor in Jena – ist früh verstorben, wie später dann auch die Mutter. Sie wurde von ihrer Ziehmutter aufgezogen, einer Frau mit ausgeprägt liberaler Einstellung, einer der Gründerinnen der Deutschen Friedensunion.
    3. ZEUGE : Man kann sagen: Sie erhielt eine streng protestantische Erziehung. Nach dem Krieg, als die Familie gezwungen war, in den Westen zu fliehen, gab es für sie nur Platz in einer katholischen Klosterschule. In einem Studentenaufsatz von 1955 schreibt sie:
    Die Begegnung mit dem Katholizismus war eine große Bereicherung für mich. Wir evangelischen Schülerinnen stießen dort auf echte Toleranz in dem gemeinsamen Bewusstsein der eigentlichen Wahrheit des Christentums …
    4. ZEUGE : Man kann sagen: Sie war alt genug, den Faschismus zu erleben; doch war sie auch jung genug, um von der Tatsache erschreckt zu sein, dass
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