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Theres

Theres

Titel: Theres
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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aufgehört hatte, sich im Obergeschoss des Hauses in der Ackerstraße (Oldenburg) die Lunge aus dem Leib zu husten. Diese Worte wecken ihre Erinnerung an den Besuch im Zeiss-Planetarium, doch die Wollust, die sie damals empfand, ist nun zu Furcht geworden. Wo kommt die Furcht her? Und warum kann sie nicht an das hohe Himmelsgewölbe denken, ohne erneut die Luftschutzsirenen zu hören, die die Nacht hindurch heulen, die Störsender – wie sie dieselben später nennen wird, als sich die Geräusche in ihren Kopf verpflanzen; ohne das Echo ihrer raschen klappernden Schritte die dunkle Kellertreppe hinunter zu hören, Wienkes Weinen; Renates Stimme: Hab keine Angst, meine Kleine, sie kommen unsretwegen ; dann die schweren, dumpfen Stöße, als die Bomben auf den Boden treffen. (Ängstliches Lauschen auf erneute Einschläge: Hier? Renates Stimme aus der Dunkelheit: Nein, nicht hier. )
    Damals lebte die Mutter noch. Jetzt ist sie tot, und ein neuer Stern wurde am Himmel geboren. Sonderbar, wie sich manche Wörter festsetzen. Als Andreas Baader, von billigem Kognak berauscht, später damit prahlt, wie er die Verräterin Ingeborg Barz mit in den Wald genommen hat, um sie dorthin zu befördern, wo sie hingehört , sieht Ulrike weder Andreas noch Ingeborg vor sich, nur den Wald, und den Himmel darüber: voll mit blutigen Sternen.
    Die Mutter ist tot, und Ulrike wartet unter einem anderen Sternenhimmel. Einer großen Universitätsaula, in der die Lichter in Pulks unter der Decke angeordnet sind. Alles Licht scheint auf Renate gerichtet, die dort vorn am Podium spricht. Ulrike sitzt zunächst von fleißig mitschreibenden Studenten umgeben; dann, wie auf ein unsichtbaresZeichen, schlagen die Studenten ihre Bücher zu und verlassen den Saal. Ulrike bleibt allein zurück und sieht, wie Renate ihre Papiere einsammelt und dann langsam auf ihre Bankreihe zukommt. Man sieht, wie angespannt sie vor dieser Begegnung ist, sie lächelt, als werde sie die ganze Zeit beobachtet. Ich habe hier ein Geschenk für dich, sagt sie und überreicht ein Notizbuch. Das Notizbuch ist schwarz und hat einen Schnappverschluss, den man abschließen kann. Auf das erste weiße Blatt im Buch klebt Ulrike ein Foto ihrer Mutter, das früher auf dem Büfett im Esszimmer stand; doch hat sie es aus dem Rahmen genommen und säumt nun das Foto mit Sternen, ähnlich denen, die ihre Lehrerin in die Aufsatzhefte klebte. Sei nicht traurig wegen deiner Mutter , sagt Renate, die sich nun über sie beugt, sie hat es gut, dort wo sie jetzt ist . Und Ulrike: Ich bin nicht traurig, du bist ja jetzt meine Mama . Renate wird sich selbst lange an das nahezu übertriebene Vertrauen erinnern, mit dem Ulrike diese Worte äußerte. Frage: Wie ist es möglich, dass all das, ohne dass sich etwas verändert, plötzlich ins Gegenteil umschlägt: in Abscheu und bitteren Hass? Antwort auf die Frage: So etwas geschieht, wenn vor der Vergangenheit ein Gitter herabgelassen wird (ein Gedanken- und Erinnerungsverbot). Alle sehen, was sich auf dieser Seite des Gitters befindet; was sich dahinter befindet, sieht niemand. Was geschieht dann mit dem, was auf der anderen Seite bleibt? Das ist die Frage, die sich Renate niemals stellt.

Hegel in Jena
Maria in Hannover
    (Mit der Welt ist
alles in Ordnung)

    In Jena sitzt Friedrich Hegel (1770–1831) und arbeitet an seinem gewaltigen geschichtsphilosophischen Traktat, der Phänomenologie des Geistes . Hegel legt darin die These vor, dass die inhärente Dialektik zwischen Herrn und Knecht der Motor der Geschichte ist; durch Kampf und Konflikt wird die Menschheit zu dem Punkt vorangetrieben, an dem der Weltgeist, in allem verborgen, realisiert wird und die Geschichte ihr vorherbestimmtes Ende findet.
    Das ist nachvollziehbar. Wenn die Geschichte eine Richtung hat, hat alles, was wir tun, einen Sinn. Jede Handlung, die sich gegen gesellschaftliche Unterdrückung richtet, trägt, wenn schon nicht zur Beseitigung derselben, so doch wenigstens zur Sichtbarmachung ihrer Mechanismen bei.
    In Jena sitzt auch der Zoologe Ernst Haeckel (1834–1919), über seinen »Stammbaum der Arten« gebeugt. Tief ergriffen von den Ideen Darwins sucht er aufzuzeigen, dass die Verwandtschaft des Menschen mit den Tieren auch auf die weitere Entwicklung der menschlichen Rasse hinweist. Somit ist es möglich zu belegen, dass bestimmte Rassen, beispielsweise Germanen und Japaner, weiter auf der Entwicklungskurve vorangekommen und somit besser als andere geeignet sind, die
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