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The Weepers - Und sie werden dich finden: Roman (German Edition)

The Weepers - Und sie werden dich finden: Roman (German Edition)

Titel: The Weepers - Und sie werden dich finden: Roman (German Edition)
Autoren: Susanne Winnacker
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konnte.
    Ich trat langsamer in die Pedale. Der Bildschirm flackerte, und ich strampelte wieder schneller. Dad wandte leicht den Kopf, um über die Schulter hinweg nach Mom zu sehen. Als sich ihr Schluchzen in hektisches Atmen verwandelte, sprang ich vom Rad. Dad und ich erreichten Mom gerade noch, bevor die Beine unter ihr nachgaben.
    »Mom, sieh mich an.« Während Dad sie auf den Boden legte, ergriff ich ihre Hand. Ihre Augen schossen wie wild zwischen mir und Dad hin und her.
    »Langsam atmen, Schatz«, wies Dad sie an, aber Mom schien ihn nicht hören zu können. Die Atemzüge wurden immer schneller und hektischer, die Augen rollten wild.
    Mom hatte ihre Asthmamedizin vor acht Monaten aufgebraucht.
    Tränen brannten in meinen Augen. Ich blinzelte sie beiseite. »Mom.« Ich nahm ihr Gesicht in beide Hände und zwang sie, mich anzusehen. »Atme mit mir, Mom.« Ich holte tief Luft und atmete wieder aus, wobei ich mit den Lippen ein übertriebenes »O« formte. »Ein und aus, Mom. Ein und aus.« Endlich schien sie mich wieder wahrzunehmen. Sie versuchte, Luft zu holen. Ihr Brustkorb hob sich. Ich nickte und machte es ihr noch einmal vor. »Ein und aus.« Ihr Atem ging rasselnd, doch zumindest atmete sie überhaupt. Dad hielt ihre Hand. Der Streit war vergessen. Er starrte uns mit roten Augen an. Seine Wangen waren eingefallen, seine Haut viel zu bleich. Ich versuchte mich zu erinnern, wann er zum letzten Mal etwas gegessen hatte. Er hungerte uns zuliebe. Dann wandte ich mich wieder Mom zu und wiederholte die Atemübung – ein und aus. Ein und aus.
    Grandma strickte immer weiter.
    Klick. Klick.
    Sie hatte nicht mal aufgeblickt.
    Klick. Klick.
    »Neben meinem Edgar ist noch Platz.« Grandmas harter bayerischer Akzent durchschnitt den Raum. Alle sahen zur Kühltruhe hinüber. Alle bis auf Mia.
    Gott sei Dank.
    Wir hatten ihr eingeredet, dass Grandpa die letzten sechs Monate glücklich im Himmel und nicht steifgefroren neben den Erbsen verbracht hatte. Moms schwaches Lächeln verschwand wieder aus ihrem Gesicht, und sie schluckte hörbar.
    »Grandpa Edgar?« Mia drehte sich mit neugierigen Augen zu uns um. Grandma sah von dem halbfertigen Schal auf, strickte aber weiter.
    Klick. Klick.
    »Ja, dein Großvater. Wer sonst?« Bis auf das Klicken der Stricknadeln war nichts zu hören.
    Klick. Klick.
    »Soll ich ihn dir zeigen?«
    Eine Ader pulsierte auf Dads Schläfe. Er war kurz vor einem Wutausbruch. »Um Himmels willen, sei still!«, zischte er. Sonst redete er mit Grandma nie in diesem Ton.
    »Habe ich dir keinen Respekt beigebracht, mein Sohn?«, zischte Grandma zurück. Sie strickte weiter.
    Klick. Klick.
    Mias neugierige blaue Augen wanderten zwischen Dad und Grandma hin und her. »Du hast gesagt, dass Grandpa im Himmel ist. Werden wir ihn bald im Himmel besuchen?«
    Mom drehte sich um, ging in die Vorratskammer und zog den Vorhang hinter sich zu. Auch das konnte ihr Schluchzen nicht übertönen. Dad ballte die Fäuste und funkelte Grandma wütend an. Bobby setzte sich auf den Heimtrainer und strampelte mit geschlossenen Augen und so verbissener Miene los, dass selbst das Zusehen wehtat.
    Ich nahm Mia bei der Hand und führte sie zum Küchentisch, wo ich mich auf einen Stuhl fallen ließ und sie auf meinen Schoß setzte. »Werden wir Grandpa auch bald im Himmel besuchen?«, fragte sie noch einmal und sah mit ihren himmelblauen Augen zu mir auf. Ich lächelte krampfhaft. »Nein, Mia.«
    Ihr Lächeln verschwand. »Warum nicht?«, schmollte sie.
    »Es ist noch nicht soweit.«
    Ich war noch nie auf einer Party gewesen, hatte mir noch nie die Haare gefärbt oder einen Jungen geküsst. So viel »noch nie«.
    Dad warf mir einen anerkennenden Blick zu und presste die Lippen zu einer entschlossenen Linie zusammen, bevor er mir zunickte. Offenbar war er mit meiner Antwort zufrieden. Ich setzte Mia ab und gab ihr einen sanften Klaps auf den Hintern. »Jetzt geh und guck weiter Arielle an.«
    Mia drehte ihren Kopf zum Fernseher, der erneut flackernd zum Leben erwacht war. Sie setzte sich wieder auf ihren Platz auf dem Boden. Inzwischen kannten wir alle den Film in- und auswendig. Wenn ich die Augen schloss, sah ich ihn in Gedanken weiterlaufen, nur von dem Geräusch von Grandmas Stricknadeln unterbrochen.
    Klick. Klick.
    Mom war immer noch in der Vorratskammer, aber sie hatte aufgehört zu schluchzen. Oder es irgendwie doch geschafft, das Geräusch zu dämpfen. Wahrscheinlich Letzteres.
    Grandma strickte an ihrem sechzehnten
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