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The Weepers - Und sie werden dich finden: Roman (German Edition)

The Weepers - Und sie werden dich finden: Roman (German Edition)

Titel: The Weepers - Und sie werden dich finden: Roman (German Edition)
Autoren: Susanne Winnacker
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von der Außenwelt abgeschnitten hatte. Uns hier eingesperrt hatte.
    »Das ist unsere letzte Dose!« Mom hielt eine kleine silberne Konservendose mit Corned Beef in die Höhe. »Was glaubst du, wie lange kann man sechs Leute davon ernähren? Wie lange? Warum hast du nicht schon vorher was gesagt? Du hättest uns warnen müssen!«
    Jetzt fing sie gleich an zu weinen. Garantiert.
    Mom hatte die schwindenden Vorräte ganz bestimmt schon vor Wochen bemerkt. Selbst Mia hatte schon wissen wollen, warum die Regale leer waren. Mom suchte nur nach einem Grund, um einen Streit mit Dad vom Zaun zu brechen. So ging das nun schon seit Monaten.
    »Das ist nicht meine Schuld!«, brüllte Dad. »Warum hast du nicht selbst nachgesehen? Wenn du mal für eine Minute mit der verdammten Putzerei aufhören würdest, wäre dir das schon früher aufgefallen!«
    Er stürmte aus dem Vorratsraum, aber er konnte sich nirgendwo verkriechen. Also blieb er vor der Wand stehen, die am weitesten entfernt war – gerade mal zehn Meter. Seine Schultern zitterten, und er bedeckte die Augen mit der rechten Hand. Ich hätte ja auf Mom getippt. Sie weinte normalerweise zuerst. Und sie weinte laut, versuchte nicht mal, es vor uns zu verbergen.
    Vor dem Leben im Bunker hatte ich Dad niemals weinen sehen. Jetzt war es ein fast alltäglicher Anblick – üblicherweise zweimal die Woche, obwohl Mom knapp in Führung lag, was hysterische Nervenzusammenbrü che betraf. Ein paar Wochen bis zum Gleichstand, schätzte ich. Natürlich nur, wenn wir bis dahin noch lebten.
    Mom stand in der Tür zum Vorratsraum und hielt die Dose mit dem Corned Beef in den geöffneten Handflächen, als wäre sie etwas Heiliges. Sie hatte die Lippen aufeinandergepresst. Tränen liefen ihre blassen Wangen hinunter. Ihre Haut war aschfahl, was an dem Mangel an frischer Luft und dem künstlichen Licht lag.
    Der Fernseher flackerte, weil ich aufgehört hatte, in die Pedale zu treten. Einen Augenblick später wurde der Bildschirm schwarz. Bobby drehte sich um und warf mir einen finsteren Blick zu. Er nahm die Ohrstöpsel heraus und öffnete den Mund. Ich schüttelte den Kopf und sah ihn warnend an. Sein Blick wanderte erst zu Dad, dann zu Mom, dann fielen ihm die Mundwinkel herunter.
    »Bobby?«, jammerte Mia und zog an seinem Ärmel. Enttäuschung überschattete ihr rundes Gesicht, weil Arielle, die kleine Meerjungfrau, vom Bildschirm verschwunden war. Bobby legte den Arm um ihre Schulter und drehte sie ein wenig zu sich, damit sie nicht mitbekam, wie Mom und Dad stritten. Mal wieder. Dann sah er mich an und hob die Augenbrauen in einer stummen Bitte.
    Normalerweise tat ich nie, was er von mir wollte. Er war zwei Jahre jünger als ich und sollte eigentlich auf mich hören – was allerdings selten genug der Fall war.
    Ich stellte die Füße auf die Pedale zurück und fing an zu treten. Arielle erschien wieder auf dem Bildschirm und schwamm fröhlich mit ihren kleinen Fischfreunden durch den Ozean. Es war so lange her, seit ich zum letzten Mal Fisch gegessen hatte. Selbstverständlich erwähnte ich das Mia gegenüber im Moment besser nicht – dazu mochte sie Arielles Unterwasser-Königreich zu sehr.
    Ich konnte mich nicht erinnern, wie der Ozean roch, wie es sich anfühlte, barfuß über den Strand zu laufen oder Sand zwischen den Zehen zu haben. Ich wusste ja nicht mal, ob meine Freunde überhaupt noch am Leben waren. Wie hatten sie überhaupt ausgesehen? Sie waren nicht mehr als eine verblassende Erinnerung. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und strampelte, so schnell ich konnte.
    Mom war immer noch in der Vorratskammer. »Das ist alles, was noch übrig ist«, flüsterte sie und betrachtete die Konservendose, als wäre sie unser Grabstein. Dad starrte weiterhin die Wand an, ohne sich umzudrehen. Zumindest hatten seine Schultern aufgehört zu zittern. Mom hob den Kopf und sah mich an. Sie weinte immer noch. Dann wanderte ihr Blick zu Bobby und Mia hinüber, die völlig in den Film vertieft waren, den sie schon zu viele Male gesehen hatten. Bobby hasste die kleine Meerjungfrau – er tat sich Arielle nur Mia zuliebe an.
    Mit einem dumpfen Poltern fiel die Dose auf den Teppichboden, rollte ein paar Zentimeter und blieb liegen. Jede Faser dieses Teppichs war mir vertraut. Jeder Fleck, jede Abschürfung. Ich sah vom Boden auf. Moms Hände zitterten.
    »Das ist alles.« Mit weit aufgerissenen Augen legte sie eine Hand auf den Mund, was ihr Schluchzen jedoch nicht dämpfen
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