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Terra Anchronos (German Edition)

Terra Anchronos (German Edition)

Titel: Terra Anchronos (German Edition)
Autoren: Andree Leu
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regte sich nun mit zaghafter Schüchternheit auf der Kutsche. Nicht mehr als die Andeutung einer Bewegung weckte Arnes Aufmerksamkeit. Fragend schaute er seinen Vater an und nickte mit dem Kopf in Richtung der Kutsche. Sofort fiel dem Vater ein, was er in der Freude des Wiedersehens schlicht vergessen hatte.
    „Ich habe jemanden mitgebracht.“
    Mit diesen Worten ging er auf die Kutsche zu und reichte einem Mädchen die Hand, um ihm beim Aussteigen behilflich zu sein.
    Arne war fasziniert. Ein solches Mädchen hatte er noch nie gesehen. Als es sich nach einer freundlichen Aufforderung des Vaters erhob und die dargebotene Hand in Anspruch nahm, erkannte Arne schon etwas Geheimnisvolles in dem Kind, das vielleicht in seinem Alter sein mochte. Zuerst fiel ihm die ungewöhnliche Kleidung auf. Sie war aus grobem Leinen gewebt. Ein Kleid, das vom Bauch bis zum Hals eng geknöpft war und dessen Rock bis zu den Knöcheln reichte. Arne überlegte, wo er ein solches Kleidungsstück schon einmal gesehen hatte. Der schmucklose, hellbraune Stoff war offensichtlich alt und bereits mehrmals geflickt.
    Doch er schien sauber und gepflegt. Die Ärmel waren am Ansatz aufgebauscht, lagen ansonsten jedoch eng an den schlanken Armen des Kindes. Die zarte Hand verschwand fast gänzlich in der vergleichsweise riesigen Pranke des Kapitäns. Mit einer scheuen Bewegung hob das Mädchen ein wenig den Saum des Kleides und machte einen ersten zaghaften, unsicher wirkenden Schritt. Sie setzte einen grob gearbeiteten Holzschuh auf den eisernen Tritt der Kutsche. Solche Schuhe kannte Arne. Auf dem Dachboden der Scheune standen gleich drei Paar davon. Aber sie waren alt und staubig, voller Spinnweben, und in einem Schuh hatte Arne sogar einmal ein Mäusenest entdeckt. Niemand benutzte die Holzpantinen. Wahrscheinlich wusste auch längst niemand mehr, wem sie einmal gehört hatten.
    Mehr als vorsichtig, fast ängstlich, suchte das Mädchen den Weg aus der Kutsche zum Boden. Arne hätte das mit einem kleinen Sprung erledigt. Doch durfte er das von einem Mädchen erwarten?
    Es war noch nicht genug des befremdlichen Staunens, das sich in Arne breitmachte. Blonde Locken umrahmten das hübsche Gesicht des Kindes und fielen weit über die Schulter nach hinten auf den Rü cken. Einzelne Strähnen verirrten sich, vom Wind in Unordnung gebracht, in das Gesicht. Doch mit keiner Bewegung bemühte sich das Mädchen, die Locken zu richten. Als Arnes prüfender und abschätzender Blick bei den Augen angelangt war, konnte er sich nicht mehr lösen. Was schaute das Kind in die endlose Ferne? Hier stand er doch und wollte wissen, was es mit dem Mädchen auf sich hatte. Der Blick kam ihm abwesend vor, als schaue sie durch alles hindurch, an einen Ort, den er selbst nicht sehen konnte. Die Farbe der Augen war das Seltsamste, was Arne je an einem Menschen gesehen hatte. Sie hatten, da war er sich jedoch nicht ganz sicher, die Farbe des Meeres.
    Keines der Meere, die Arne kannte, sah so aus. Dabei sei zugegeben, dass der Junge außer der Nordsee noch kein Meer je gesehen hatte. Aber der Vater hatte ihm von allen Schattierungen erzählt, die ein Ozean annehmen kann. Dies hier war ganz bestimmt die Farbe der Südsee. Zwischen Grün und Blau spielte das Licht der Augen. Geheimnisvoll und entrückt. Glasklar und gleichzeitig von einem trüben Schimmer überzogen, der einfach nicht zu erklären war. Beim Betrachten der Augen hatte Arne das Gefühl, in die geheimnisvolle Tiefe des Meeres zu schauen.
    Als das Mädchen dann zur Begrüßung nicht die ausgestreckten Hände von Arne und seiner Mutter ergriff, sondern einen zierlichen Knicks machte, wobei es den Blick scheu auf den Boden zu seinen Füßen richtete, war es für Arne endgültig eine besiegelte Tatsache, dass dieses Kind aus einer anderen Welt stammen müsse.

Ein Rätsel
    Arnes Überraschung war groß, als er am folgenden Morgen in aller Frühe auf leisen Sohlen in die Schlafkammer des Mädchens schlich. Es lag nicht wie erwartet in dem weichen Bett, zugedeckt von der schweren Daunendecke, welche die Mutter noch am Vortag in aller Eile bezogen hatte, sondern auf den harten Dielen des Fußbodens. Das Leinenkleid, zu einem schmalen Päckchen gefaltet, diente als Kopfkissen. Die kleinen Füße lugten unter einer dünnen Decke hervor, die sicher nur wenig gegen die kühle Nachtluft geholfen hatte. Der Junge bemerkte nicht, dass er heimlich beobachtet wurde, während er auf Zehenspitzen den kleinen Raum durchquerte und das
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