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Tempel der Träume - Der Roman (German Edition)

Tempel der Träume - Der Roman (German Edition)

Titel: Tempel der Träume - Der Roman (German Edition)
Autoren: Johanna Marthens
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anderes gehandelt hatte. Hastig blätterte sie von einer Seite zur nächsten, um sie dann wieder auf den Tisch zu legen. Als sie aufsah, blickte sie in den Monitor an der Wand, der irgendwelche seltsamen Insekten aus den Regenwäldern Afrikas zeigte. Danach den Wetterbericht von Berlin, im Anschluss einen kurzen Vortrag zur Vorbeugung von Osteoporose im Alter.
    ‚Wenigstens muss ich mir darum keine Sorgen machen‘, dachte die Frau bitter und starrte auf den Lautsprecher unter der Zimmerdecke in der Ecke, aus dem gleich ihr Name ertönen würde. Sie saß alleine im Wartezimmer. Niemand sonst schien so krank wie sie zu sein. Niemand sonst hatte heute einen Brief erhalten, dass sie sofort erscheinen sollte. Niemand sonst versuchte verzweifelt die Angst im Zaum zu halten, die ihr Herz umfing und wie Blei in ihrem Magen lag. Sie saß einsam hier, nur in Gesellschaft von leeren, kühlen Stühlen, eine Frau mittleren Alters mit kurzen, frech geschnittenen rötlich-braunen Haaren, in denen sich an den Schläfen das erste Grau zeigte, mit einer nicht mehr ganz schlanken Figur, die sie unter modernen Kleidern versteckte, und mit nervös zuckenden Fingern, von denen jeder einzelne mit einem Ring geschmückt war.
    Sie nahm erneut eine Zeitschrift in die Hand, legte sie aber sofort wieder ab, denn der Lautsprecher knackste leise. „Frau Myrtel Ragewitz, Sprechzimmer Zwei, bitte.“ Die Stimme klang nüchtern und sachlich, als würde sie einen verspäteten Zug ankündigen und nicht den Augenblick, in dem eine Patientin eine vernichtende Diagnose erhalten würde.
    Myrtel stand auf. Ihre Knie wollten einknicken, doch sie zwang sie, wacker ihren Dienst zu tun. Wenigstens ihr werdet doch wohl noch ein bisschen durchhalten!, befahl sie ihnen lautlos.
    Sie lief den leeren Gang entlang zu einer Tür, auf der „Sprechzimmer 2“ stand, und trat ein.
    An einem Schreibtisch in der linken hinteren Ecke saß ein Mann Ende Fünfzig mit einem dichten, grauen Bart, buschigen Augenbrauen und warmen braunen Augen. Auf einem kleinen metallenen Schild am Tischrand stand in schlichten weißen Buchstaben der Name Dr. Olaf Loträger.
    Er stand auf, als Myrtel zu seinem Schreibtisch trat, und reichte ihr die Hand.
    „Setzen Sie sich bitte“, sagte er. Seine Stimme klang ruhig und warm wie seine Augen.
    Sie tat, was er ihr sagte. Dann öffnete sie den Mund, um selbst auszusprechen, was sie fürchtete. „Er ist zurück.“
    Er nickte. „Es tut mir leid. Die letzte Spiegelung, der Bluttest und das MRT sind leider eindeutig. Ihr Krebs ist zurückgekehrt.“
    Myrtel nickte. „Es geht also alles wieder von vorne los? Wie gehabt?“
    Sie versuchte ein Lachen, das so klingen sollte, als würde es sich um ein wohlbekanntes Ritual zum Weihnachtsfest handeln, das wiederholt werden wollte. Wie das Schmücken des Baumes oder das Braten der Gans. Sie wollte nicht zeigen, wie sehr sie sich davor fürchtete, was seine Worte wirklich bedeuteten: Monate der Übelkeit, der Schmerzen und der Angst.
    Doch das Lachen blieb ihr im Halse stecken, als sie den Gesichtsausdruck von Loträger sah. Er wirkte, als hätte er noch nicht alles berichtet.
    „Was ist es noch?“, fragte sie. Und zum ersten Mal erlaubte sie sich, Angst zu haben und ihre Knie zittern zu lassen.
    „Es sind dieses Mal Metastasen vorhanden. Das umliegende Fettgewebe ist befallen, ebenso Ihre Leber. In der Lunge konnte ich noch nichts feststellen, aber wir müssen sie genau im Auge behalten, bevor es auch dort zu einem Tumor kommt.“
    „Das heißt, wieder Operation, Chemotherapie und Bestrahlung? Doch dieses Mal auch in der Leber?“ Sie hatte das Gefühl, dass ihr Hals mit einem Schlag trockener war als die Sahara. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie hatte Mühe, normal zu sprechen.
    Er nickte ernst. „Zudem kann es sein, dass Sie eine Lebertransplantation benötigen.“
    „Und dann? Kommt er danach wieder? Oder lässt er mich dann endlich in Ruhe?“
    Sie kannte die Antwort, doch sie musste sie trotzdem hören. Es war wie ein Zwang. Weil sie inständig hoffte, dass er vielleicht doch etwas anderes sagen würde.
    Er verzog leicht den Mund, als täte es ihm leid, dass er gleich eine Hoffnung zerstören würde.
     „Es kommt darauf an. Sie sind mit Ihren achtundvierzig Jahren noch jung genug, so dass sich der Körper vollständig erholen kann und Sie noch viele schöne, gesunde Jahre erleben können. Vielleicht kommt er wieder, vielleicht können wir ihn auch lange genug im Zaum halten. Auf der
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