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Tea-Bag

Tea-Bag

Titel: Tea-Bag
Autoren: Henning Mankell
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Stadt, die für Menschen, die es nicht gibt, genauso gut ist wie jede andere. Menschen, die auftauchen und dann wieder verschwinden. Mich gibt es nicht. Genausowenig wie Tanja. Wir sind Schatten, die sich am äußersten Rand des Lichts aufhalten. Dann und wann strecken wir einen Fuß oder eine Hand oder ein Stück von unserem Gesicht in die Sonne. Aber wir ziehen uns rasch wieder zurück. Wir verdienen uns nach und nach das Recht, in diesem Land zu sein. Wie wir es verdienen sollen, wissen wir nicht. Aber solange wir uns fernhalten, solange wir Schatten sind und ihr nur einen Fuß oder eine Hand seht, nähern wir uns. Eines Tages können wir uns vielleicht draußen ins Licht stellen, müssen uns nicht länger in den Kulissen verbergen. Aber Leyla gibt es schon jetzt. Sie hat den Weg aus dieser Schattenwelt heraus gefunden.
    Sie gleiten mir aus den Händen, dachte er erneut. Er versuchte sie mit seinen Fragen festzuhalten.
    - Dieses Foto von dem Kind, Tanja, ist das deine Tochter?
    Sie sah ihn erstaunt an.
    - Ich habe keine Tochter.
    - Dann bist du es selbst. Aber das stimmt nicht. Das Bild ist erst vor wenigen Jahren aufgenommen worden.
    - Das ist nicht meine Tochter. Und ich bin es auch nicht.
    - Wer ist das Mädchen auf dem Bild.
    - Irina.
    - Wer ist das?
    - Natalias Tochter. Ich bekam das Bild, als wir in Estland gelandet waren. Sie hatte vier Bilder von ihrer Tochter bei sich, die sie zu Hause in Smolensk bei ihrer Großmutter väterlicherseits zurückgelassen hatte. Sie gab jeder von uns ein

Bild. Es war in einer Nacht, als die letzten Arschlöcher aus unseren Betten verschwunden waren, da überreichte sie uns die Fotografien, wie Ikonen. Um des Mädchens willen mußten wir überleben und wieder nach Smolensk heimkehren. Wir teilten uns die Verantwortung für Natalias Tochter. Eines Tages werde ich zurückfahren und die Verantwortung für Irina übernehmen. Falls nicht Natalia oder eine von den anderen zurückgekehrt ist. Aber das glaube ich nicht.
    Jesper Humlin dachte lange über das nach, was sie gesagt hatte. Dann wandte er sich an Tea-Bag.
    - Ich muß an das denken, was du gesagt hast, als wir uns das erste Mal trafen. An diesem Abend, als es Streit im Publikum gab. Erinnerst du dich, was du mich damals gefragt hast? Wieso ich nicht über jemanden wie dich schreibe. Aber das werde ich jetzt tun.
    Tea-Bag schüttelte den Kopf.
    - Das kannst du nicht. Sobald wir gegangen sind, vergißt du uns.
    - Du tust mir weh.
    Tea-Bag sah ihm tief in die Augen und sagte:
    - Ich tue keinem weh. Jetzt sollst du das Ende meiner Geschichte hören.
    »Erinnerst du dich, wie ich da am Strand stand, südlich von Gibraltar? Es schien, als sei es eine heilige Stadt der Flüchtlinge, ein Palast aus nassem Sand, von dem eine unsichtbare Brücke ins Paradies hinüberführte. Viele, die kamen, sahen mit Entsetzen, daß ein Wasser dazwischenlag. Ich erinnere mich an die Spannung und die Angst, mit der wir das Schiff erwarteten, das uns hinüberbringen sollte. Jedes Sandkorn war ein wachsamer Soldat. Aber ich erinnere mich auch an einen eigentümlichen Leichtsinn, Menschen, die leise summten, sich in langsamen, verhaltenen Siegestänzen bewegten. Es war, als seien wir schon am Ziel. Die Brücke lag

bereit, die letzte Etappe der Reise war nur ein Sprung in einer gewichtslosen Leere.
    Ich weiß nicht, woran es lag, daß gerade ich überlebte, als dieses Schiff an den Felsen zerschellte und verzweifelte Menschen da unten im Dunkel des Laderaums mit Klauen und Nägeln kämpften, um hinauf- und herauszukommen. Aber ich weiß, daß diese Brücke, die wir alle zu sehen meinten, als wir da am Strand am nördlichsten Punkt von Afrika standen, dem Kontinent, von dem wir flohen und um den wir schon trauerten, ich weiß, daß diese Brücke gebaut werden wird. Denn so hoch wird der Berg von zusammengepreßten Leichen auf dem Boden des Meeres einmal werden, das versichere ich dir, daß der Gipfel sich wie ein neues Land aus dem Meer erheben wird, und das Fundament aus Schädeln und Rippen wird die Brücke zwischen den Kontinenten schlagen, die keine Wächter, keine Hunde,
    keine
    betrunkenen
    Seeleute,
    keine Menschenschmuggler werden niederreißen können. Erst dann wird dieser grausame Wahnsinn enden, bei dem man angstvolle Horden von Menschen, die desperat um ihr Leben fliehen, in die Tunnel der Unterwelt hinabzwingt, so daß sie zu den Höhlenmenschen der neuen Zeit werden.
    Ich habe überlebt, ich wurde weder vom Meer, noch von Verrat, von
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