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Tea-Bag

Tea-Bag

Titel: Tea-Bag
Autoren: Henning Mankell
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und ständig nach Anzeichen dafür suchten, daß auch sie irgendwo in der Welt willkommen sein könnten. Daß es Türen gab, die ihnen aufgetan würden, manchmal nur für wenige Stunden, manchmal für Tage oder Wochen.
    Als sie sich stark genug fühlte, stand sie auf und tauschte das verschlissene Nachthemd gegen ein T-Shirt aus, das sie von dem Mädchen aus Ghana erhalten hatte, mit einem Bild und einem Werbetext von Nescafe darauf. Sie dachte, der Text auf dem weißen Hemd verberge tatsächlich ihre Identität, ähnlich wie die Tarnanzüge, welche die Militärs an jenem entsetzlichen Morgen getragen hatten, als sie zwischen den Hütten auftauchten und ihren Vater abführten, für immer.
    Rasch schüttelte sie diese Gedanken ab. In regelmäßigen Abständen träumte sie davon, wie er auf dem Dach hockte, bis er vor Erschöpfung das Bewußtsein verlor und zu Boden fiel. Mitunter dachte sie an seine Füße, die sich gegen den Boden stemmten. Aber an sein Verschwinden zu denken, war ihr nur abends möglich. Da war sie am stärksten, direkt vor Sonnenuntergang, einige kurze Minuten lang, wenn sie von übermenschlichen Kräften erfüllt schien. Danach war es, als ob sie langsam zu fallen anfinge, ihr Puls wurde schwächer, und ihr Herz versuchte sein hartnäckiges Pochen tief in einem der geheimen Räume ihres Körpers zu verbergen.
    Tea-Bag schlug die Zeltplane zurück. Es hatte aufgehört zu regnen. Feuchter Dunst hing über dem Lager, die langen Reihen der Baracken und Zelte standen da wie angepflockte, schmutzige Tiere. Menschen bewegten sich langsam auf Ziele zu, die nur in ihrem Inneren existierten, draußen vor dem Zaun patrouillierten die Wachen mit ihren glänzenden Waffen und den Hunden, die immerzu aufs Meer hinauszuspähen schienen, als seien sie darauf abgerichtet, die Gefahren stets von dort kommen zu sehen, Gefahren in Form von morschen Schiffen mit einer Unzahl verzweifelter Menschen in den Laderäumen oder von sonderbaren selbstgebastelten Flößen oder von

Ruderbooten, sogar von herausgebrochenen Türen, die den Menschen als Schwimmbretter dienten.
    Ich bin hier, dachte Tea-Bag. Das ist der Mittelpunkt meines Lebens, hier befinde ich mich im Zentrum der Welt. Hinter mir liegt nichts, vielleicht liegt auch nichts vor mir. Ich bin hier, weiter nichts. Ich bin hier, und ich erwarte nichts.
    Wieder war ein Tag angebrochen. Tea-Bag ging hinüber zu einer der Baracken, in der sich die Duschen befanden, die von den Frauen im Lager benutzt wurden. Wie üblich stand eine lange Warteschlange davor. Nach einer guten Stunde war sie an der Reihe. Sie schloß die Tür hinter sich, schlüpfte aus den Kleidern und stellte sich unter den Wasserstrahl. Dabei stieg in ihr die Erinnerung an die Nacht auf, in der sie dem Ertrinken nahe gewesen war. Der Unterschied, dachte sie, während sie ihren schwarzen Körper einseifte, der Unterschied ist etwas, das ich eigentlich nicht verstehen kann. Ich lebe, aber ich weiß nicht, warum, und ich weiß auch nicht, wie es ist, tot zu sein. Nachdem sie sich abgetrocknet und angezogen hatte, machte sie der nächsten Frau in der Schlange Platz, einem dicken Mädchen, das einen schwarzen Schal um den Kopf gewickelt hatte, so daß nur die Augen herausschauten wie zwei tiefe Löcher. Zerstreut überlegte Tea-Bag, ob das Mädchen den Schal ablegte, wenn es sich wusch.
    Sie setzte ihren Weg zwischen den Baracken und Zelten fort. Wenn jemand ihren Blick erwiderte, lächelte sie. Unter einem provisorisch errichteten Blechdach auf einem offenen Platz holte sie sich bei einigen rundlichen, schwitzenden Spanierinnen, die bei der Essensausgabe pausenlos miteinander schwatzten, ihre Ration ab. Tea-Bag setzte sich an einen Plastiktisch, fegte ein paar Brotkrumen weg und begann zu essen. Jeden Morgen fürchtete sie, ihren Appetit verloren zu haben. Mitunter dachte sie, das einzige, was sie am Leben erhielt, sei, daß sie immer noch imstande war, Hunger zu empfinden.

Damit die Zeit verging, aß sie langsam. Dabei dachte sie an die Uhr, die tot am Meeresboden lag. Sie überlegte, ob das Uhrwerk noch lief, oder ob es in dem Moment stehengeblieben war, in dem sie eigentlich gestorben wäre, wenn sie ertrunken wäre wie all die anderen. In ihrer Erinnerung forschte sie nach dem Namen des italienischen Ingenieurs, dem sie in jener einsamen Nacht die Uhr gestohlen hatte, als sie sich verkaufte, um Geld für die Fortsetzung der Flucht zu bekommen. Cartini? Cavanini? Ob es ein Nachname gewesen war, mit dem
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