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Tea-Bag

Tea-Bag

Titel: Tea-Bag
Autoren: Henning Mankell
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pinkeln, wenn die Autos hielten, um die Fahrer zu wechseln oder aufzutanken.
    Peter Ludorf hatte uns falsche Pässe mit fremden Namen besorgt. Zuerst hatten wir Angst, es war, als nehme uns jemand unsere Identität weg. Tatjana sagte, es sei ein Gefühl, als würde uns jemand die Haut Schicht um Schicht vom Gesicht kratzen. Aber wir vertrauten Peter Ludorf. Er lächelte, gab uns Kleider, sprach mit uns wie mit Erwachsenen. Was blieb uns anderes übrig? Wir hatten unser Leben in seine Hände gelegt. Er war es, der gekommen war, um uns zu holen, um uns zu befreien, uns die Freiheit zu schenken, ein Floß, auf dem wir davonpaddeln konnten, weg vom Wodkasumpf, wo Slumratten wie wir keine Zukunft hatten.
    Es war mitten in der Nacht, als wir ankamen, das Auto fuhr in einen dunklen Hinterhof, wo knurrende Hunde an ihren Ketten zerrten. Ich erinnere mich, daß Tatjana mich plötzlich am Arm packte und flüsterte: >Es ist falsch, es ist falsch.< Wir stiegen aus, es war kalt, mit feuchter Luft und fremden Gerüchen. Irgendwo in den Schatten, bei den knurrenden Hunden, hörten wir Stimmen und Sprachen, die keine von uns je zuvor gehört hatte. Ein Mann lachte und gluckste, und ich

verstand, daß es sich auf uns vier bezog, die wir da in unseren kurzen Röcken standen und froren.
    Wir wurden in ein Zimmer geführt, in dem die Wände aus rotem Plüsch waren, es gab dort große Spiegel, und auf einem Sofa saß Peter Ludorf mit seinen weißen Fäustlingen und lächelte. Er betrachtete uns und stand dann rasch vom Sofa auf. Im selben Moment erlosch sein Gesicht, als sei eine Kerze ausgeblasen worden. Seine Augen wechselten ihre Farbe, sogar seine Stimme wurde anders. Er stellte sich direkt vor mich hin und sagte, wir würden in ein paar Zimmern im Obergeschoß wohnen. Wir sollten alle Männer bedienen, die da hinaufgeschickt wurden. Unsere Pässe mußten wir abgeben. Um zu zeigen, daß es ernst war, daß er nicht scherzte, befahl er uns, zu einem Tisch zu gehen, der neben dem Sofa stand. Darauf befand sich eine Schachtel, ein Kasten aus Holz, vielleicht zwanzig Zentimeter hoch und genauso breit. Er redete weiter, immerfort sprach er zu uns, und er sagte, da seien ein paar Mädchen gewesen, die dieselbe Reise gemacht hätten wie wir, die aber nicht verstanden hätten, daß er es ernst meinte. Dann öffnete er den Deckel des Kastens und nahm zwei Weckgläser heraus. In dem einen Glas schwammen ein Paar Lippen in Spiritus. Keine von uns erkannte, was es war. Erst als wir den Inhalt des anderen Glases entdeckten, einen Finger mit einem Ring daran, mit einem rot lackierten Nagel, begriffen wir, daß der Inhalt des anderen Glases ein Paar Lippen waren, die man aus dem Gesicht einer Frau herausgeschnitten hatte.
    Immerfort redete Peter Ludorf auf uns ein. Er sagte, die Lippen hätten einem Mädchen gehört, das Virginia hieß. Sie hätte versucht wegzulaufen, indem sie erst einem ihrer Kunden einen Schraubenzieher in die Brust stieß, einem hochrangigen Mitglied einer französischen Handelsdelegation. Peter Ludorf klang beinah traurig, als er erzählte, er habe ihr eigenhändig die Lippen herausgeschnitten, um sie den anderen zeigen zu

können, die die Situation mißverstanden hatten und glaubten, Aufruhr und Ausbruch würden geduldet. Das Mädchen, das seinen Finger verloren hatte - Peter Ludorf sagte, er hätte ihn mit einer Zange abgeknipst, wie Hufschmiede sie benutzen, um alte Nägel aus Hufeisen zu ziehen -, hatte Nadja geheißen, sie war siebzehn und auch sie hatte versucht sich davonzumachen, indem sie durch ein Fenster kletterte und anschließend ein Auto stahl, das sie gegen ein Haus auf der anderen Straßenseite fuhr.
    Peter Ludorf stellte die Gläser zurück in den Kasten und schlug den Deckel zu. Ich glaube, keine von uns erfaßte, was er sagte, was es bedeutete. Wir waren hungrig und müde und froren. In einer verdreckten Küche stand eine Frau, die so dürr war, daß sie wie eine Todkranke wirkte, und rührte in einem Kessel. Sie rauchte unablässig, ihr Mund war zahnlos, obwohl sie kaum älter sein konnte als dreißig. Es gab kein Restaurant, nur eine kleine Bar im Erdgeschoß, als Tarnung für das, was sich dort eigentlich abspielte. Es war ein Bordell. Peter Ludorf hatte uns auf die gleiche Weise hereingelegt wie viele andere vor uns. Er hatte genau gewußt, wie er die Slumratten verführen konnte.
    Ich glaube, keine von uns hatte eine Vorstellung davon, was uns erwartete. Wir saßen in der Küche, aßen die
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