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Taxi

Titel: Taxi
Autoren: Karen Duve
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Wochen ließ Dietrich mich mehrmals über Funk fragen, ob ich Pause machen wollte oder später mit zum Frühstücken käme. Ich sagte jedes Mal ab. Dietrich und seine Freunde frühstückten immer gegen fünf Uhr morgens. Dann hatte ich gerade meinen toten Punkt überwunden und fühlte mich, als könnte ich noch stundenlang weiterarbeiten. Außerdem gingen jetzt viele Funktouren ein. Zum Flughafen oder zum Hauptbahnhof. In der letzten Stunde kamen oft noch mal dreißig oder vierzig Mark auf die Uhr. Dietrich und seine Freunde sah ich sowieso ständig, weil wir mehr oder weniger immer an denselben Posten warteten. Karl-Muck-Platz, Staatsoper, Siemersplatz, Großneumarkt – wo ich auch hinkam: Entweder standen dort schon Dietrich und Rüdiger, oder Udo-Zwonullfünf kauerte in seinem Wagen und hatte die Nase so tief in einen roten, gelben oder blauen Suhrkamp-Band gesteckt, dass über dem Buchrand nur noch seine pelzartigen Haare hervorschauten. Oft stellten sich dann auch noch Taximörder und Udo-Dreidoppelsieben hinten an, und alle zogen in das Taxi um, das am weitesten vorne stand. Manchmal saßen wir zu viert oder fünft im ersten Wagen, bis ein verstörter Fahrgast zaghaft gegen das Fenster klopfte und fragte, ob frei wäre.
    Ich kam kaum noch zum Lesen. Ständig wurde geredet. Anfangs redete ich sogar von allen am meisten. Das ist so, wenn man gerade mit dem Taxifahren angefangen hat. Alles scheint so außergewöhnlich spannend und erzählenswert. Ich erzählte die Geschichte von dem Zuhälter mit der Löwenmähne, und wie ich einmal im Funny Club an der Bar gestanden hatte und einer der Gäste mich für eines der Mädchen gehalten hatte. Ich erzählte, wie ein Fahrgast nicht hatte zahlen wollen und was ich daraufhin gesagt hatte und was er. Wie ich eine Tour vom Gänsemarkt nach Rahlstedt bekommen hatte und mir dann gleich in Rahlstedt jemand über den Weg gelaufen war, der zurück in die Innenstadt wollte, und kaum war ich wieder am Gänsemarkt angelangt, »steigt doch dort einer ein und will wieder nach Rahlstedt, und da hatte ich doch tatsächlich hundert Mark Umsatz in kaum mehr als einer Stunde.« Die anderen hörten höflich zu und gähnten hinter vorgehaltener Hand. Ich langweilte sie tödlich, aber sie wussten auch, dass da nichts zu machen war. Jeder Taxifahrer-Neuling quasselt am Anfang so viel. Es sind zu viele Eindrücke auf einmal, zu viele nie gesehene Welten. Ich war noch nie zuvor in einem Bordell gewesen, noch nie in einer Obdachlosenkneipe oder in den Hafengegenden, wo die Containerschiffe lagen. Ich konnte mir die Straßennamen schlecht merken und musste so oft nach dem Weg fragen, dass ich schon davon träumte. Ich hatte mir keine Vorstellung vom Ausmaß der Schlechtigkeit meiner Mitmenschen im Umgang mit Dienstleistenden gemacht, und ich musste es erst lernen, zahlungsunwilligen, betrunkenen Fahrgästen das Geld gewaltsam abzuknöpfen. Wer kein Taxifahrer ist, ahnt ja gar nicht, wie viele Verrückte und ambulant Schizophrene frei herumlaufen. Und dann der Schmutz. Unvorstellbar, wie viel Dreck die Fahrgäste jede Nacht in mein Taxi schleppten. Ich fragte mich, wo der herkam, der ganze Dreck; ob der den Leuten aus der Tasche fiel oder vom Körper bröselte oder wie. Und dann war da noch der Dreck, den sie ausdünsteten, und der als stinkender Belag das Lenkrad und das Armaturenbrett überzog und schließlich auch mich, und der am Ende einer Nacht in braunen Schlieren von meinen Händen in den Abfluss des Waschbeckens strudelte. Und dann die Gefühlsachterbahn. Die ganze Nacht saß ich in dieser engen rollenden Kapsel, die Türen gingen auf und zu, und die Leute stiegen ein und aus und brachten ihren fremden Geruch und ihre jeweilige Stimmung mit, und am Anfang war ich wehrlos. Einmal fuhr ich eine alte Frau. Ihr Mann war gerade gestorben und sie hatte seine Sachen aus dem Pflegeheim an der Mundsburg abgeholt. Zusammengesunken und verschrumpelt wie ein greiser Maulwurf saß sie in ihrem grauen Persianer auf dem Rücksitz und hielt die Plastiktüte im Arm.
    »Mein armer kleiner Schatz«, sagte sie leise. »Wir haben uns so lieb gehabt.«
    Meine Güte, das ging mir vielleicht an die Nieren! Aber kaum hatte ich die alte Frau abgesetzt und mich geschnäuzt, standen da zwei winkende Männer am Straßenrand. Wenn du jemanden am Straßenrand winken siehst, bremst du als Taxifahrer automatisch, auch wenn dir noch der Rotz aus der Nase läuft. Das ist wie ein Reflex. Du bremst also, und die Männer
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