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Tanz unter Sternen

Tanz unter Sternen

Titel: Tanz unter Sternen
Autoren: Titus Mueller
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Wasser und erscheinen vorsichtig an anderer Stelle wieder. Aber sie tauchen nicht richtig auf, sie stecken bloß die Nasenspitze aus dem Wasser und bringen es in Bewegung. Die Möwe denkt, einen leckeren Fisch vor sich zu haben, stürzt sich darauf und wird gefressen.«
    Neles Hand zuckte zurück. »Ihr seid mir welche!« An die scharfen Zähne der Seelöwen hatte sie nicht mehr gedacht. »Ich trockne mir rasch die Hände ab«, sagte sie, und umarmte Franz noch einmal. »Viel Glück.«
    »Dir vor allem, Mädchen! Dein erster Abend … Meine Jungs und ich jubeln dir von hier hinten zu.«
    »Wenigstens ihr.«
    Er sah sie an. »Macht Senta dir das Leben schwer?«
    »Allerdings. Aber die meinte ich nicht. Meine Mutter kriegen keine zehn Pferde in den Wintergarten. Und Irene Sanden liegt mit Fieber im Krankenhaus.«
    »Deine Tanzlehrerin? Sei froh. Meistens gibt es nach der Premiere noch etwas zu verbessern. Ist von Vorteil für dich, wenn sie einen späteren Auftritt sieht. Sie wird hin und weg sein!«
    »Ach, Franz.« Nele umarmte ihn noch einmal. Er war eine Art Vater für sie geworden im Varieté, ein gütiger Mann, weder von verbissenem Ehrgeiz getrieben wie die meisten der anderen Künstler noch verlogen wie das Management.
    »Du hast es dir hart erarbeitet.« Er hielt sie vor sich, als wollte er Nele noch einmal begutachten, bevor sie in die Schlacht hinauszog.
    »Das kannst du laut sagen!« Sie lachte, und er ließ sie los. »Im schweren Handwagen habe ich Kästen mit Zinnsoldaten aus der Fabrik geholt und den ganzen Tag Soldaten und Pferde bemalt, und das beim ätzenden Gestank der Farbe. Überall in der Wohnung haben die Figuren zum Trocknen gestanden, auf jedem Stuhl, auf jedem Fensterbrett. Und nach dem Tanzunterricht habe ich die Armee sortiert, spät nachts, und in Kartons eingenäht. Jeden Pfennig meines Lohns habe ich für den Tanzunterricht ausgegeben.«
    »Deswegen hat’s hier immer so gestunken! Aber im Ernst: Heute bekommst du den Lohn für deine Mühe, Nele.«
    Der Abend im Berliner Wintergarten war lang: Um acht Uhr hatte er begonnen, und er würde bis Mitternacht andauern, mit zwei kurzen Pausen von jeweils zehn Minuten. Hinter dem Seelöwenbecken jonglierte Bruno mit Zylinderhüten, sein Gesicht verriet angestrengte Konzentration. Auf der anderen Seite dehnte sich der Schlangenmensch und machte sich warm für den Auftritt.
    Niemand wagte, Otto Reutter anzusprechen, der bereits im Frack vor dem Spiegel stand und seine Mimik übte. Der berühmte Sänger und Komiker war geschminkt, die Lippen leuchteten blutrot, die Augen waren schwarz umrandet.
    »Nele, du bist gleich dran«, sagte der Bühnenmeister und winkte sie zum Bühnenaufgang. Franz reichte ihr ein Tuch. Hastig trocknete sie sich die Hände ab und stieg das Treppchen hinauf. Der Seitenvorhang verbarg sie noch, aber sie konnte bereits auf die Bühne sehen. Dort führte die Allison-Truppe ihre »Ikarischen Spiele auf lebenden Kissen« vor. Es wurde still im Publikum. Eine Artistin sprang aus der Hand des Kollegen ab, vollführte einen Salto in der Luft und wurde von zwei anderen Artisten, die sich Rücken auf Rücken festhielten, wieder aufgefangen. Ein bewunderndes Raunen ging durch den Saal. Dann der Schlusssprung, und der Applaus toste. Nach mehreren Verbeugungen gingen die Allisons von der Bühne.
    Jetzt setzte eine neue Musik ein, und Nele trat hinaus. Das Licht der Scheinwerfer war hell, sie konnte die Zuschauer nicht erkennen, aber sie wusste, sie waren da, der Saal war gefüllt mit steifen Hemdbrüsten, Fracks und tief ausgeschnittenen Kleidern, sechs Mark fünfzig der Logenplatz, zwei Mark die reservierten Plätze an den Tischen, eine Mark das Entree. Sie, Nele Stern, stand auf der wichtigsten Varieté-Bühne Berlins. Nicht als Gehilfin bei einem Trick, auch nicht zum Kulissenräumen, sondern für ihren eigenen Soloauftritt als Tänzerin.
    Noch war die Musik leise, und sie meinte, über die Töne hinweg die Menschen zu hören, ein Knistern und Flüstern und Rascheln von Stoff. Was, wenn Senta recht behielt, und ihr fiel plötzlich die Choreographie nicht mehr ein? Was, wenn sie gleich vor den Zuschauern versagte, wenn sie mit rotem Kopf von der Bühne gehen musste? Der Bolero lief, nun gab es kein Zurück mehr. Das Herz hämmerte in ihrer Brust. Nele hob die Arme, ließ ihren Kopf, dann ihren Oberkörper kreisen. Sie drehte Châinés, sprang einen Grand jeté, wechselte mit einigen Glissades zur anderen Bühnenseite, drehte sich,
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