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Tanz im Mondlicht

Tanz im Mondlicht

Titel: Tanz im Mondlicht
Autoren: Luanne Rice
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Sylvie. »Es wird bereits dunkel …«
    »Nur eine kleine Spritztour. Mich ein wenig umschauen«, erwiderte Jane, die Hand auf dem Türknauf aus Messing. Wenn sie sich umdrehte und Sylvie in die Augen blickte, würde sie ihre Schwester auffordern müssen, sie zu begleiten. Ihr Herz begann zu hämmern. Sie spürte, dass Sylvie ihr Kreuzverhör gerne fortgesetzt oder eine Warnung angebracht hätte. Aber sie drehte sich nicht um, und bevor Sylvie ein weiteres Wort über die Lippen brachte, war Jane zur Tür hinausgeschlüpft.
     
    Der Vollmond ging auf, eine silberne Scheibe, die durch das Geäst der Bäume schimmerte. Dylan arbeitete trotz der späten Stunde, wollte so viel wie möglich schaffen, bevor der Saft erneut zu fließen begann. Er hatte den Tag damit verbracht, abgestorbene und kranke Äste zu kappen, hatte Zweige entfernt, die andere überwucherten, Zweige, die schnurgerade nach oben oder nach unten wuchsen.
    Selbst in der Dunkelheit konnte er nach oben spähen und im Mondlicht erkennen, dass der Baum, den er soeben gestutzt hatte, nun eine annehmbare Form auswies, ohne ein zu dichtes Gewirr von Zweigen irgendwo im Schutzdach der Blätter.
    Die Wiederherstellung einer Apfelplantage war ein Unterfangen, das große Ähnlichkeit mit der Wiederherstellung der Ordnung im Universum besaß. Es erinnerte ihn an den Idealismus, den es brauchte, um das Gesetz zu verteidigen. Es galt, die wild wuchernden, verworrenen, gefährlichen Elemente zu brauchbaren Mitgliedern der Gesellschaft zurechtzustutzen. Dylan konnte sich gut an die Zeit erinnern, als er selbst noch solche Ideale hatte. Eine Art kosmische Mischung aus Hoffnung und bodenloser Naivität.
    Er klappte die Trittleiter zusammen, hängte sie über die Schulter und machte sich auf den Heimweg. Der Boden war noch hart, und wenn er auf Wurzeln trat, schoss ein messerscharfer Schmerz an der Rückseite seines verletzten Beines empor. Manchmal meinte er die Kugel noch immer zu spüren – Metallsplitter steckten bis heute im Oberschenkelknochen fest. Er ermahnte sich, nicht zu klagen, sondern sich Isabels Schicksal vor Augen zu halten. Rückte man damit nicht alles in die richtige Perspektive? Seine Gedanken überschlugen sich, er fühlte sich überdreht nach einem weiteren Tag auf der Leiter, ohne eine Menschenseele zu Gesicht zu bekommen. Hätte er diese vermaledeiten Selbstgespräche auch dann geführt, wenn er jemanden zum Reden gehabt hätte?
    Er überlegte einen Moment lang, ob er seinem Bruder einen kurzen Besuch abstatten sollte. Sie wohnten in derselben Straße, nur eine Viertelmeile voneinander entfernt. Die Familie stand sich nahe, und Dylan hatte seine Position als älterer Bruder immer ernst genommen. Sie hatten gewiss schon zu Abend gegessen; Eli war vermutlich gerade mit dem Abwasch fertig, und Sharon würde Chloe bei den Hausaufgaben helfen.
    Und genau das war der springende Punkt, der ihn zurückschrecken ließ und ihm bewusst machte, dass er nicht in Stimmung war für eine Stippvisite, zumindest nicht heute Abend. Der Anblick von Chloe – wenn sie völlig aus dem Häuschen war wegen ihrer Geschichtsprüfung, ihrer guten Noten oder was sonst in ihrem Leben vorging, oder wenn sie Geige übte und überschwenglich »Onkel Dylan! Hör dir das an! Mozart!« rief – war bisweilen mehr, als Dylan zu ertragen vermochte. Heute war so ein Tag, bedingt durch den Frühling und die Erinnerungen an Isabel, die in der Luft lagen.
    Als er Schritte vernahm, ging Dylan langsamer. Er spähte umher und überlegte, wer in seine Obstplantage eingedrungen sein mochte. Jeden Herbst stahlen sich Jugendliche herein, um Äpfel zu stibitzen; im Sommer kampierten sie manchmal unter freiem Himmel, benutzten das weitläufige Anwesen als Liebesnest. Im April, wenn der Schnee ein für alle Mal weggetaut war, rasten die Motocross-Fahrer hindurch, rissen mit ihren röhrenden Geländemaschinen die Erde auf. Aber jetzt war erst März. Noch zu kalt.
    Der Mond stieg höher, stieg über die Wipfel der Bäume, und Dylan entdeckte den Bock. Virginiahirsche und Schwarzbären trieben sich auf seinem Besitz herum. Bei milder Witterung fraßen sie die Früchte direkt von den Bäumen, im Winter gruben sie im Schnee nach gefrorenem Fallobst. Dylan hielt den Atem an, als er nun den mächtigen Hirsch beobachtete.
    Normalerweise waren sie in Gruppen unterwegs, aber der Bock schien allein zu sein. Wo steckte sein Rudel? Dylan zählte die Sprossen an seinem Geweih: Es waren zehn. Ein großes,
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