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Tanz der Hexen

Tanz der Hexen

Titel: Tanz der Hexen
Autoren: Anne Rice
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leise. »Es hat hundert Jahre gebraucht, um zu Suzanne zu kommen. Aber ich glaube, er ist nicht mehr hier. Ich glaube, er hat das Licht gefunden. Ich glaube, daß Julien es gefunden hat. Vielleicht hat Julien ihm geholfen. Vielleicht waren Evelyns Worte wahr.«
    Leise sagte er ihr das Gedicht auf. Vor der letzten Strophe hielt er inne, aber dann rezitierte er auch sie:
     
    Zerschmettert die Sprößlinge, die nicht Kinder,
    Erbarmt euch nicht derer, die nicht rein,
    Denn sonst kennt Eden nie mehr Frühling,
    Denn sonst herrscht unsre Art nicht mehr.

     
    Er wartete einen Moment und sagte dann: »Ich hatte Mitleid mit ihm. Ich fühlte das Grauen. Ich fühlte es. Aber ich mußte tun, was ich getan habe. Ich habe es aus unbedeutenden Gründen getan – wenn man die Liebe zu Ehefrau und Kind als unbedeutend bezeichnen kann. Aber es gab auch bedeutsame Gründe, und ich wußte, daß die ändern es nicht tun würden; ich wußte, er würde sie alle verführen und besiegen – er mußte. Das war das Grauenvolle. Er war rein.«
     
    Und dann war er wohl eingeschlafen. Ihm war, als habe er von England geträumt, von verschneiten Tälern und großen Kathedralen. Vermutlich würde er solche Träume noch eine ganze Weile haben. Vielleicht immer. Es regnete durch den Sonnenschein. Gut.
    »Honey, soll ich dir etwas vorsingen?« fragte er leise. Dann lachte er. »Ich kenne nur ungefähr fünfundzwanzig alte irische Lieder.« Aber dann hatte er keine Lust mehr. Vielleicht dachte er auch an Lashers Gesicht, als er erzählt hatte, wie er den Menschen vorgesungen hatte, und an seine großen, unschuldigen blauen Augen. Er dachte an den glatten schwarzen Vollbart und an seine starke, kindliche Lebhaftigkeit und daran, wie er sotto voce gesungen hatte, um ihnen zu zeigen, wie die Melodie geklungen hatte.
    Tot. Ich habe es getötet. Er erzitterte am ganzen Körper! Morgen. Keine Sorge. Aufstehen.
    Hamilton Mayfair war hereingekommen.
    »Möchtest du einen Kaffee? Ich kann eine Weile bei ihr sitzen bleiben. Sie sieht so… hübsch aus heute morgen.«
    »Sie sieht immer hübsch aus«, sagte Michael. »Danke. Ich gehe ein bißchen hinunter.«
    Er ging hinaus und die Treppe hinunter.
    Das Haus war lichtdurchflutet, und der Regen funkelte auf den klaren Fensterscheiben.
    Er konnte immer noch das Feuer riechen, das Mona letzte Nacht im Schlafzimmerkamin angezündet hatte, um seine Sachen zu verbrennen.
    Er bekam Lust, ein richtig großes Feuer im Wohnzimmer anzuzünden und seinen Kaffee dort zu trinken, wo die Sonne und das Feuer ihn wärmen würden.
    Er ging durch den Salon zum vorderen Kamin, der ihm von beiden der liebere war mit seinen in Marmor gehauenen Blumen. Er setzte sich hin, zog die Beine nach Indianerart unter sich und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stein. Er hatte nicht genug Energie, um eine Tasse Kaffee zu machen oder Anzünder und Holz zu holen. Er wußte nicht, wer im Hause war. Er wußte nicht, was er anfangen sollte.
    Er schloß die Augen. Tot, es ist tot, du hast es getötet. Es ist zu Ende.
    Er hörte, wie die Tür auf- und wieder zuging. Aaron kam herein. Er sah Michael nicht gleich, und als er ihn dann erblickte, schrak er zusammen.
    Aaron war frisch rasiert. Er trug ein graues Wolljackett mit aufgesetzten Taschen und einem Gürtel, dazu ein sauberes weißes Hemd und eine Krawatte. Sein dichtes weißes Haar war ordentlich gekämmt, und sein Blick war ausgeruht und klar.
    »Ich weiß, Sie werden mir nie verzeihen«, sagte Michael. »Aber ich mußte es tun. Ich mußte. Es war der einzige Grund, weshalb ich überhaupt hier war.«
    »Oh, ich habe Ihnen nichts zu vergeben«, sagte Aaron in bewußt tröstendem Ton. »Denken Sie das nicht, nicht einmal für einen Augenblick. Verbannen Sie es aus Ihren Gedanken, als wäre es schädlich für Sie, daran zu denken. Schieben Sie es beiseite. Es ist nur – helfen konnte ich Ihnen nicht. Ich selbst hätte es nicht tun können.«
    »Warum nicht? War es das Geheimnis dieses Wesens, oder hatten Sie Mitleid mit ihm, oder war es Liebe?«
    Aaron überlegte. Er schaute sich um, vielleicht um sich zu vergewissern, daß niemand sonst in der Nähe war. Dann kam er langsam näher und ließ sich auf die Kante eines bestickten Stuhls sinken.
    »Ich weiß es ehrlich nicht«, sagte er und sah Michael ernst an. »Ich hätte es nicht töten können.« Seine Stimme wurde so leise, daß Michael ihn kaum noch verstehen konnte. »Ich hätte es nicht gekonnt.«
    »Und der Orden? Was ist
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