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Talk Talk

Talk Talk

Titel: Talk Talk
Autoren: T.C. Boyle
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»Überhaupt kein Grund zur Eile.« Als er eine Minute später wieder in die Straße einbog, stand sie neben der Fahrertür des Volvos und beugte sich zum Fenster hinunter. Ihr T-Shirt war hochgerutscht, so daß er die straffe Haut ihres unteren Rückens und ihre geschwungenen Hüften sah, und er setzte den Blinker und hielt hinter einem Lieferwagen mit Kastenaufbau an. Er stand in irgendeiner Einfahrt, aber das machte nichts, denn gleich würde sie – allein – in ihren Jetta steigen, und alles würde seinen Gang gehen. Er setzte ein, zwei Meter zurück, in etwas mehr Abstand zum Bordstein, so daß er an dem Lieferwagen vorbeisehen konnte. Den Motor ließ er laufen.
    Sie unterhielten sich, die beiden, es war ein Hin und Her, und jetzt gebrauchte sie die Hände, Abschiedsworte, Winken, und dann sah er, wie die andere Frau sie am T-Shirt zog und ihr etwas gab. Was war es? Drogen? Eine Zigarette? Irgendwas für Gehörlose? Vielleicht ein Hörgerät. Aber nein, sie band ihr Haar mit einem dieser Gummibänder hoch, sie packte es mit beiden Händen und legte den Kopf in den Nacken, wie Natalia es immer tat, wie Natalia es immer getan hatte. Diese charakteristische Bewegung, das Heben und Loslassen. Und dann wieder Abschiedsworte, und sie ging über die Straße und stieg in ihren Wagen, während die andere Frau davonfuhr. Er hatte gesehen, daß sie in ihrer Parklücke in der Falle saß und daß es ein leichtes sein würde, ihr mit dem Geländewagen den Weg zu versperren und zu tun, was er tun mußte, doch er regte sich nicht. Sie betrachtete sich im Spiegel, beide Arme zu einem V über dem Kopf erhoben, und machte irgendwas mit ihren Haaren, strich sie zurecht und glättete sie und faßte sie erneut mit dem Gummiband zusammen. Er sah ihr wie gebannt zu und dachte an Natalia, an Gina, während ihre schlanken, blassen Arme sich im Gleichtakt bewegten und der Wagen leise schaukelte. Dann holte sie Lippenstift und Eyeliner hervor und machte sich zurecht, als hätte sie eine Verabredung. Und so war es ja auch.
    Das war ein schwieriger Gedanke. Und sie war eine Schlampe, das durfte man nicht vergessen. Aber da war etwas in der Art, wie sie sich – nicht anders als alle Frauen – ganz unbefangen zur Schau stellte, wie sie in einem Lippenstift oder einer Puderdose nach Schönheit suchte, wie sie es brauchte, schön zu sein und dafür bewundert zu werden, wie sie nach Anmut strebte, etwas, was ihn mit der Kraft einer Offenbarung traf, und er ließ den Wagen im Leerlauf, bis sie aus der Parklücke rangierte und er sich ducken mußte, als sie mit strahlenden Augen und dem gespannten Bogen ihres ruhigen, glänzenden Mundes an ihm vorbeifuhr. Im Rückspiegel sah er, daß sie das Ende des Blocks erreicht hatte. Er wendete und folgte ihr.
    Es war nicht schwer, sie einzuholen. Sie hatte einen Fahrstil wie jemand, der doppelt so alt war wie sie, und merkte offenbar nicht, daß sie mal zu weit in der Mitte der Straße war, mal zu nah am Rand. Sie trat zu oft auf die Bremse. Fuhr zu schnell durch die Kurven und auf gerader Strecke zu langsam. Er klappte die Sonnenblende herunter und blieb vier, fünf Wagenlängen hinter ihr – schließlich sollte sie ihn ja nicht erkennen, noch nicht –, aber er hätte ebensogut dicht auffahren können, sie hätte es gar nicht bemerkt. Sie sah nur in den Rückspiegel, um ihr Make-up zu korrigieren, die Lippen aufeinanderzupressen oder mit der Fingerspitze über ihre Wimpern zu streichen. Aber wohin fuhr sie? Zurück zum Krankenhaus?
    Die nächste Ampel stand auf Rot. Sie hielt an und schaltete den linken Blinker ein. Er verlangsamte das Tempo und hielt am rechten Straßenrand, um den Wagen hinter ihm vorbeizulassen, und die ganze Zeit spürte er den losen Draht in seinem Inneren, das langsame Schwinden und Vergehen. Ein zweiter Wagen hielt hinter ihr: Vater, Mutter, auf dem Rücksitz drei Kinder, das Haar der Mutter war naß und hing wie Lametta über ihren Kragen. Donner grollte. Der Himmel verdunkelte sich. Er hatte beide Hände am Steuer, doch er fühlte nichts. Als die Ampel auf Grün sprang, fädelte er sich wieder in den Verkehr ein, bog links ab und folgte ihr den Hügel hinab in Richtung Bahnhof, und dabei fragte er sich, ob das ihr Ziel war und wie er sie dort in die Enge treiben könnte.
    Er versuchte, sich den Bahnhof vorzustellen – das Café, das Bahnhofsgebäude, den Bahnsteig für die Züge in Richtung Norden, die Überführung zum Bahnsteig für die Züge in Richtung Süden, die im
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