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Talk Talk

Talk Talk

Titel: Talk Talk
Autoren: T.C. Boyle
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Schweiß im Nacken und am Halsausschnitt des T-Shirts sie kühlte. Sie blieb einen Augenblick stehen und blickte Terris Wagen nach, dem abgekämpften Volvo, den ihre Eltern ihr geschenkt hatten, nachdem ihr Bruder ihm bereits einiges abverlangt hatte, und der jetzt, im Davonfahren, das Licht der Nachmittagssonne einfing. Dann sah sie sich nach beiden Seiten um, ging über die Straße zu ihrem Wagen, schloß ihn auf und setzte sich ans Steuer.
    Der Bahnhof war nur fünf Minuten entfernt, und obwohl sie einmal in eine falsche Straße, eine Sackgasse, einbog, war sie eine Viertelstunde vor Ankunft des Zuges da. Als sie auf den Parkplatz fuhr, verdunkelte sich plötzlich die Sonne. Dana blickte durch die mit Insektenleichen gesprenkelte Windschutzscheibe zum Himmel und sah einen Wolkenfetzen vorübertreiben; dahinter, jenseits des Flusses, erhoben sich Gewitterwolken in breiter, dunkler Front über den Bergen. Blitze flackerten, aber nicht als gezackte Gabeln, sondern als ein Aufleuchten der Wolken – es sah aus, als würde das angrenzende County aus der Luft bombardiert. Durch das offene Fenster strömte feucht und fruchtbar riechende Luft herein, wie aus einem tiefen Brunnen gepumpt. Oder aus einer Höhle. »Durch Höhlen, die kein Mensch durchdringt, / Erreicht den dunklen Ozean«, sang sie vor sich hin, nur um die Worte auf der Zunge zu spüren und ein wenig Trost aus dem Rhythmus zu schöpfen. Sie parkte ein, stellte den Motor ab und kramte in ihrer Geldbörse nach Kleingeld für die Parkuhr.
    Sie wußte nicht, was sie mit ihrer Mutter anfangen sollte. Sie hatte sich vorgestellt, sie zum Mittagessen im Café am Bahnhof einzuladen – sie würden etwas abseits unter einem Sonnenschirm sitzen, vor sich zwei Gläser gekühlten Weißwein und ein Thunfischsandwich oder einen Salat, irgend etwas, von dem man hin und wieder einen Bissen nehmen konnte –, aber nun zog ein Gewitter herauf. Ihre Mutter würde Bridger besuchen wollen, bevor sie in die Stadt zurückfuhren, doch einem Teil von Dana – einem großen und immer größer werdenden Teil – widerstrebte dieser Gedanke. Sie wollte nicht zurück ins Krankenhaus. Sie würde es nicht aushalten, diese sich zum Crescendo steigernde Symphonie der Schuldgefühle, den Gesichtsausdruck von Bridgers Mutter, die Gerüche, die Schwestern, die Männerfüße im Nachbarbett, Bridger. Bridger, der eingegipst und verbunden dalag, seine Verletzungen ertrug, Atemschwierigkeiten hatte – und wer hatte ihm das angetan? Für einen Augenblick stand ihr das Bild zweier sich aufplusternder Mütter vor Augen, aber sie wechselte sogleich den Kanal. Dafür war sie noch nicht bereit. Sie wollte jetzt egoistisch sein, kraß egoistisch. Sie wollte sich bei ihrer Mutter unterhaken, sobald sie aus dem Zug gestiegen war, sie zum Wagen führen und direkt wieder nach New York fahren – die Bäume würden zurückbleiben, und die Straße würde im Rückspiegel schmaler werden. Sie wollte in dem vollgestellten Zimmer sitzen und die Tür hinter sich zumachen, das gewaschene Haar mit einem Handtuch umwickelt, umfächelt vom mechanischen Hauch der Klimaanlage, sie wollte es sich auf dem Bett gemütlich machen, die Rollos herunterziehen und dieses neue Gefühl in sich aufblühen lassen, das Gefühl, befreit zu sein und absolut und ganz und gar und ohne Bedauern oder Reue loszulassen, als stünde sie auf einem Sims vor dem Fenster im achtzehnten Stock und wehrte alle Hände ab, die sich ihr entgegenstreckten, bis sie entweder davonschwebte oder kopfüber ins Nichts stürzte.
    Sie stieg aus, warf die Tür zu und verschloß sie mit der Fernbedienung. Sie wollte ein paar Schritte gehen, vielleicht vom einen Ende des Bahnsteigs zum anderen, und den Wind auf dem Gesicht spüren. Es waren nicht viele Leute da. Ein Sonntagnachmittag im Hochsommer, die dunkelgraue Wolkenwand schob sich näher, und die Schiffe auf dem Fluß veränderten die Farbe, als der Schatten über sie fiel. Dana ging am Café, am Fahrkartenschalter und am Wartesaal vorbei und stieg die Stufen zum Bahnsteig hinauf, und erst jetzt spürte sie das seismische Beben unter ihren Füßen, den gebändigten Ansturm wilder Kraft, und da war er schon, der Zug, in dem ihre Mutter saß, und fuhr fünf Minuten zu früh in den Bahnhof ein.
    Später erinnerte sie sich am deutlichsten nicht daran, daß das Gewitter, als wäre auch das Wetter an einen Fahrplan gebunden, beinahe im selben Augenblick losbrach, in dem der Zug zum Stehen kam, oder daran, wie viele
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