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Taken

Taken

Titel: Taken
Autoren: Erin Bowman
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der Raum trostlos und kalt.
    Nach ungefähr zwei Wochen, als mir langsam klar wird, dass es real ist, dass er nicht zurückkommt, breche ich zum ersten und einzigen Mal zusammen. Einen ganzen Abend verbringe ich im Bett und schluchze in mein Kissen. Obwohl ich es mir nicht anmerken lasse, bin ich vollkommen verängstigt. Ich fühle mich leer, als wäre die Hälfte von mir fort, und ich habe keine Familie mehr. Ma hatte einen Bruder, der einen Sohn hatte, aber die beiden sind schon lange fort. Kale ist noch da, aber ich kann nicht der Vater sein, den sie braucht. Ich kann nicht so gut mit ihr umgehen wie Blaine. Aber der schrecklichste Gedanke ist wohl, dass ich selbst nur noch ein Jahr habe. Ich habe ein Jahr, bis ich achtzehn werde, und nicht einmal jemanden, mit dem ich diese Zeit verbringen könnte.
    In Claysoot bin ich so etwas wie ein bunter Hund. Die Leute sehen mich mitleidig an, schlagen die Augen nieder oder schenken mir ein halbherziges Lächeln. »Ist schon in Ordnung, Gray«, scheinen sie sagen zu wollen. In den Wäldern finde ich Frieden. Unter den Ästen und Kiefernzapfen bin ich frei; keine Blicke folgen mir, keine Gedanken drehen sich in meinem Kopf. Dort habe ich das Gefühl, ich selbst zu sein.
    Das Gute ist, dass ich mich wenigstens von Blaine verabschieden konnte. Als ich jünger war, habe ich in der Bibliothek eine Schriftrolle gelesen, in der das Phänomen des Raubs dokumentiert wurde. Die Bewohner von Claysoot wussten nicht immer, was es damit auf sich hatte. Als der allererste Raub geschah, hat sogar bis zum nächsten Morgen niemand etwas davon mitbekommen. Damals verschwand Maudes älterer Bruder, Bo Chilton, auf mysteriöse Weise. Nachdem man die Stadt und die Wälder durchkämmt hatte, wurde er für tot erklärt, obwohl seine Leiche nie gefunden wurde. Es war eigenartig, dass Bo so einfach verschwunden war, und es passte überhaupt nicht zu ihm. Er war das älteste der ursprünglichen Kinder gewesen, ihr Anführer. Gelassen, klug, verantwortungsbewusst.
    An dem Tag, an dem die ersten Bewohner die Augen aufschlugen und ihre Stadt in Trümmern vorfanden, gerieten sie in Panik. Sie vermuteten einen heftigen Sturm, in dessen Verlauf sie das Bewusstsein verloren hatten. Aber sie konnten sich nicht an ein aufkommendes Unwetter erinnern. Überhaupt wussten sie gar nichts mehr, was vor der Katastrophe gewesen war, und mit der Ausnahme ihrer Geschwister erkannten sie sich nicht einmal gegenseitig wieder. Von einem Moment zum anderen waren Nachbarn zu Fremden geworden.
    Bo war derjenige gewesen, der Werkzeuge aufgetrieben und angefangen hatte, die Stadt wieder aufzubauen, bevor die Gruppe im Chaos untergehen konnte. Er brachte die anderen wieder zur Vernunft und wies jedem eine besondere Aufgabe zu. Innerhalb von Monaten erholte sich die Stadt. Auf den Feldern wuchsen die Früchte wieder. Sie verstärkten die Zäune um die Weiden, trieben das Vieh, das in die Wälder gelaufen war, zusammen und brachten es zurück in die Stadt. Bo begründete den Rat, der aus fünf von der Gemeinde gewählten Mitgliedern bestand, und da sich niemand an den alten Namen ihrer Heimat erinnern konnte, taufte er die Stadt sogar neu, indem er zwei Wörter zusammenfügte, die nur zu gut beschrieben, wie es fast überall in der Stadt aussah: unbefestigte Straßen aus rotem Lehmboden – clay – und ein rußartiger Staub – soot  –, der so hartnäckig war, dass man ihm nur entkam, wenn man in die Wälder flüchtete.
    Als sie die Mauer entdeckten, erbot Bo sich freiwillig, als Erster hinüberzuklettern und sich umzusehen, doch er konnte nicht sehen, was auf der anderen Seite lag. Er stieg auf eine große Eiche im nördlichen Teil der Wälder, doch von dort aus konnte er nur pechschwarze Dunkelheit jenseits der Mauer erkennen und war der Meinung, es sei nicht sicher genug, um hinüberzusteigen. Er versuchte es anderen auszureden, aber ein paar taten es trotzdem. Nur ihre verkohlten Leichen kehrten zurück. Bos Vermutung hatte sich bestätigt.
    Durch Bo wurde aus den ursprünglichen Kindern, die unorganisiert und panisch gewesen waren, eine vereinte Gruppe, die in der Lage war, ihre Gemeinschaft wieder aufzubauen. Aber es gab keine Erklärung für sein Verschwinden. Ein paar Monate später war ein weiterer Junge fort und eine Woche später noch einer. Schließlich fiel Maude auf, dass dieses plötzliche Verschwinden bei Jungen eines gewissen Alters aufzutreten schien. Es traf immer den Ältesten unter ihnen, und dann
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