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Taken

Taken

Titel: Taken
Autoren: Erin Bowman
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drei Räumen. Früher habe ich dort meine Vormittage verbracht, mit Tinte auf Pergament gekritzelt, Schriftrollen gelesen und mich dabei auf ein Pult gestützt, das wackelte, wenn man zu stark auf seine rechte Seite drückte. Dadurch wirkte meine Handschrift immer unsauber. Wegen dieser Schlampigkeit bekam ich schlechte Noten im Schreiben, besonders im Vergleich zu Blaine. Aber was macht das schon aus? Eine schöne Handschrift schützt einen nicht vor dem Raub.
    Zuerst gehen wir langsam, und der Boden scheint unter mir zu schwanken. Doch je weiter wir gehen, umso stärker und zuversichtlicher werde ich. Aber es ist so schön, Emma an meiner Seite zu haben, dass ich nichts sage, obwohl ich jetzt allein weitergehen könnte.
    In der Mitte der Stadt brennt hell das zeremonielle Feuer und beleuchtet die Ratsglocke, mit der die Sitzungen eröffnet werden. Daneben steht Blaine und empfängt die einzelnen Menschen, die Schlange stehen, um sich von ihm zu verabschieden. Er wirkt, als ginge ihn die ganze Sache nichts an. Weder Angst noch Sorge schleichen sich in seinen Blick oder brechen sich in einem nervösen Zucken seines Körpers Bahn. Auf einer Matte neben ihm liegt Kale, die die Augen geschlossen hat und friedlich schläft. Sie ist noch zu jung, um zu begreifen, was vor sich geht. Für sie findet einfach eine lustige Feier statt, und die Aufregung hat sie erschöpft.
    Emma löst meinen Arm, der in ihrem Nacken liegt. »Wird es denn gehen?«, fragt sie. Mit einem schmerzlichen Ausdruck lächelt sie mir zu, und ich weiß, sie meint den Umstand, dass ich gleich Blaine verlieren werde, nicht die Verletzung. Ich habe das Gefühl, etwas sagen zu müssen, aber mein Mund ist trocken.
    »Komm«, sagt sie. »Stellen wir uns an.«
    Die ganze Stadt ist gekommen, und wie immer sind die Frauen weit zahlreicher als die Männer. Kinder, die noch nicht verstehen, was sie miterleben, rennen quietschend um das Feuer und spielen fröhlich. Alle anderen wechseln bedrückte Blicke, auch die Mitglieder des Rats. Die Danner-Schwestern flüstern miteinander und stehen so eng beisammen, dass sie fast zu einer einzigen Person verschmelzen, während Clara und Stellamay in der Schlange nervös von einem Fuß auf den anderen treten. Die Einzige aus dem Rat, die Einzige überhaupt, die von allem unberührt wirkt, ist Maude Chilton. Sie stützt sich auf ihren knorrigen Stock und starrt direkt ins Feuer. Jede Falte, die sich durch ihr wettergegerbtes Gesicht und auf ihren weißen Haaransatz zuschlängelt, wird angestrahlt.
    Maude ist schon von Anfang an hier, genau gesagt seit siebenundvierzig Jahren. Das weiß ich, weil ich die Schriftrollen gelesen habe, die in unserer Bibliothek aufbewahrt werden. Bei der Gründung von Claysoot war Maude dreizehn. Erwachsene waren nicht dabei.
    Jetzt steht Maude dem Rat vor. Wenn sie in einer angenehmeren Position wäre, dann wäre das etwas, worauf man stolz sein könnte. Doch stattdessen ist jeder Sohn, den Maude je hatte, jeder Neffe, Enkel oder Bruder, dem Raub zum Opfer gefallen. Die meisten Mädchen, mit denen sie aufgewachsen ist, sind schon an Krankheiten oder Altersschwäche gestorben. Vielleicht kann sie deshalb bei den Zeremonien so ruhig bleiben, weil sie gar nichts mehr empfindet.
    Emma und ich stellen uns in die Schlange. Wir sind die Letzten. Jedenfalls bis auf Maude, die immer den Abschluss macht. Während ich darauf warte, an die Reihe zu kommen, beobachte ich die Dorfbewohner, die sich von Blaine verabschieden. Einige ergreifen seine Hände oder klopfen ihm kräftig auf die Schultern. Andere weinen. Sasha wischt sich die Tränen weg, nachdem sie sich aus seinen Armen gelöst hat, obwohl sie Blaine seit Jahren nicht mehr zugeteilt worden ist. Schließlich stehen nur noch Emma und ich da. Ich lasse ihr den Vortritt.
    Überraschend heftig stürzt sie auf Blaine zu und schlingt ihm die Arme um den Hals. Er erwidert die Umarmung. Sie sprechen miteinander, doch ich verstehe nichts, was wahrscheinlich auch gut ist. Es steht mir nicht zu, Emmas Abschiedsworte zu hören. Als sie auseinandertreten, drückt Blaine ihr aufmunternd die Hand.
    Bevor Emma sich zum Gehen wendet, stellt sie sich noch auf die Zehenspitzen und küsst Blaine auf die Wange. Ich kann nichts dagegen tun, dass sich Eifersucht in meiner Magengrube regt. Sie läuft durch meinen Körper, ich bin neidisch auf ihren Kuss und zornig darüber, dass er ihr so offensichtlich fehlen wird. Es ist ekelhaft, dass ich solchen egoistischen Gedanken
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