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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Autoren: Fritz J. Raddatz
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leicht bayerischen Tonfall seines «Joa, die Suusen …» (womit dann Susan Sontag erledigt ist) oder «Jooaa, der Maachting … döa ist ja erfolgsdeprimiert» (Martin Walser also) oder die Benn-ähnliche (Dumm sein und Arbeit haben, das ist das Glück-)Herablassung: «Ich freu mich ja so sehr für den Grass, daß er endlich den Preis bekommen hat, nun ist er halt nicht mehr so gnatzig und bitter.» Auf mein gewagtes: «Na, SIE hätten sich doch aber auch über den Nobelpreis gefreut» kommt ein leicht ungnädiges: «Ach, ich kenne ja viele von diesen Akademie-Greisen, wissen Sie» (was ja nun, genau genommen, KEINE Antwort ist). Selbst Tod hält ihn nicht auf, den Einsamkeitszirkel um sich zu schlagen. «Joa, SIE kannten ja gewiß den Brasch …?», oder: «Den Mickel, ja, den kannte ich ja gar nicht» – was aus dem Enzensbergerschen übersetzt heißt, es hat/hätte auch nicht gelohnt, «solche» zu kennen, mehr noch: Da ER sie nicht kannte, gab es sie eigentlich gar nicht; so kann er allen Ernstes sagen: «Es ist ja auch unhöflich, zu sterben.»
    Die Öffentlichkeit, die doch kaum einer so gut und so raffiniert bedienen kann wie er, «interessiert mich nicht» (nachdem man soeben von der FAZ bis … alles Mögliche las), aber er berichtet zugleich, daß er Berater «so eines Theaters in Berlin» sei, eine eigentlich recht niedere Stufe, das Renaissance-Theater’chen nämlich, wo «Lili Marleen» so ein großer Erfolg gewesen sei; es war aber ein Marlene-Dietrich-Abend.
    Man hat das Gefühl, daß seine Nerven nur im Kopf Platz haben, verankert sind.
    Wichtig dann, von bitterem Ernst, mein Nachmittagsbesuch bei Gitta Mund, Jochens Witwe. Seit Monaten könne sie nicht schlafen – das schon mehrfach am Telefon beteuert –, weil sie irgendetwas von meinen Memoiren-Plänen gehört hatte. Natürlich wußte ich, was sie wollte, und begann sogleich das Gespräch, noch bevor der Tee auf dem Tische stand: «Du willst also, daß ich lüge. Ist das dein stets betontes Christentum?» Sie meint aber, ganz tapfer-störrisch, in dieser so hilfreichen, eher katholischen Dialektik: «Verschweigen ist nicht lügen.» Kurzum, sie appelliert, meine Beziehung zu Jochen Mund «minus das» darzustellen, den Vormund, den «Heiligen» zu schildern (den sie wider besseres Wissen aus ihm macht; natürlich auch, weil es schmückt, Witwe eines Heiligen zu sein und nicht Witwe eines Sünders).
    Doch ist Spott gar nicht angesagt, vielmehr eine höchst problematische Angelegenheit: Die «Wahrheit» wäre selbst für unsere «Und das ist gut so»-Zeit noch schockierend, immerhin war ich minderjährig, als er mich verführte, und der Mann, ein Pastor, mein Vormund. Die Wahrheit indes wäre für diese Frau, die Jahrzehnte, wissend, was um sie herum geschah, litt und schwieg und die Unterhosen wusch – – – eine Art Todesstoß. Sie hat’s eigentlich nicht verdient, erzählte – wir haben ja das 1. Mal seit 55 Jahren offen miteinander gesprochen – eindringlich und schauerlich von IHREM gestohlenen Leben, dem Leben einer damals 25jährigen Frau, die Familie, Kinder, einen treuen Mann erhofft hatte und die mißbraucht wurde, indem sie eben NICHT mißbraucht wurde, die dreimal in ihrem Leben Sex hatte; unvorstellbar.
    Fast nicht lösbares Problem für mich und mein Buch: Sage (i. e. schreibe) ich nicht die Wahrheit, amputiere ich mein eigenes Leben um das vielleicht entscheidende Erleben, zumindest meiner jungen Jahre. Amputiere ich nicht, komme ich mir fast wie ein Mörder vor an einer Frau, der so grausliches Unrecht geschah (nicht durch mich zwar).
    Denke mir im Augenblick eine «katholische» Lösung: Andeutung, aber nicht ausmalen. Hm.
    Suchte Trost im schön restaurierten Schloß Schleißheim – doch dieser mir ja stets leicht verdächtige Ballsaal-Barock kann alles mögliche, trösten kann er nicht; dazu braucht es eine stille Kunst, nicht ausgemalte Treppenhäuser, auch nicht die lebenslustige, wenn nicht lebenshungrige Prallheit der Rubens und/oder Caravaggio.
    Nächsten Tag, also vorgestern, nach Berlin zum seltsamen Springer-Fest, wo man sich vor mir mehr graulte, als ich gewußt hatte, gar hinterher (etwa vom immer als Kork auf allen Wellen schwimmenden George Weidenfeld; nun nicht mehr auf dem Getty-Ticket, aber auf dem des Springer-Konzerns) erfuhr. War lustig.
    Denn in die Reihen der verschlossenen Gesichter von allen möglichen Chefredakteuren, Vorstandsvorsitzenden, Aufsichtsratsvorsitzenden usw. hinein begann ich mit dem
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