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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Max Frisch
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Die Straßen sind breit, aber voller Löcher, und wenn es geregnet hat, so sind es Tümpel; der Asphalt schwindet, aber man ist nicht auf dem Land, es gibt Verkehrsampeln. Stadt mit Unkraut. Wenn sie, wie neulich, die Wut packt, legen sie Feuer nicht an die Häuser in den fernen Herrschaftsvierteln, sondern an die Häuser hier; da und dort steht wieder eine verkohlte Ruine. Es kann Taktik sein; es kommt aber auch vor, daß Kinder ein bewohntes Haus anzünden. Was heißt Obdachlosigkeit. Familien in einem Zimmer. Wie es darin aussieht, kennt man ebenfalls aus Foto-Büchern. Unsere Begleiterin nennt Zahlen; die Ämter wissen sie. Ein sommerlicher und heißer Tag; wir verlassen aber den Volkswagen nur, wo die Begleiterin, die seit Jahren hier arbeitet, jemand kennt. WINSTONS CHICKEN BAR ; was man bekommt ist ordentlich. Ein Bier kostet im Ghetto mehr als anderswo. Die Kunden haben ja keine Wahl. Was die Menschen den ganzen Tag machen, ist nicht ersichtlich; keine Fabriken, keine Büros, keine Produktion. Was nichts mehr taugt, bleibt am Straßenrand oder in Höfen, Autos mit offener Motorhaube, ausgeweidet und verrostet, Wracks ohne Pneu, Glas, Polster usw., das Metall verfault leider nicht. Man befindet sich nicht außerhalb der Industrie-Gesellschaft, nicht in Afrika; man wundert sich nicht, wenn die blanken Jumbo-Jets über diese Gegend fliegen. Auch hier eine Avenue mit Schaufenstern; man ist nicht in einem andern Land: die Marken sind die bekannten Marken. Es gibt sogar Banken, kleiner als drüben, aber auch in Marmor, SAVINGS BANK . Kinder haben einen Hydranten öffnen können und freuen sich an der Überschwemmung – am Horizont wieder die Silhouette von Manhattan … Früher sind sie gekommen, um eine Arbeit zu suchen, Schwarze ausdem Süden; jetzt kommen sie, um von Unterschlupf zu Unterschlupf zu verwahrlosen, frei, ungelernt und arbeitslos. Brownsville ist nicht Harlem; die Nachbarn hier kennen einander nicht. Alle sind Flüchtlinge, wenn auch auf Lebenszeit. Hier gibt es kein Heraus. Es gibt nicht einmal den Traum davon. Rassentrennung durch Elend. Was nicht im Säuglingsalter stirbt, lebt weiter und vermehrt sich, ohne zu wissen, warum es so ist, wie es ist, und Millionen leben von der Wohlfahrt, die zur Fütterung reicht. Der Staat zahlt die Mieten in verrotzten Wohlfahrt-Hotels, die privates Eigentum sind; daran ist nicht zu rütteln: Profit muß sein, sonst geschieht gar nichts in der Welt –
    Das alles weiß man.
    Einmal zwei weiße Polizisten, die nicht einzugreifen haben; sie gehen so für sich hin, übrigens hier die einzigen Weißen, die zu sehen sind, ausgenommen die weißen Doktoren im Hospital, die ich bewundere; ich frage nach Zahlen: wieviel Tuberkulose, wieviel Selbstmord (wenig), wieviel Alkoholiker, wieviel geistesgestörte Kinder. Es wird ja etwas getan, nein, so ist es nicht, daß gar nichts getan wird; es fehlt nur das Geld, es fehlen ausgebildete Lehrer, es fehlt die Aufklärung; übrigens sind die schweren Krawalle seltener, seit Drogen im Umlauf sind, die Verbrechen zahlreicher. Dann gibt es wesentliche Unterschiede: zwischen puertoricanischen Kindern und schwarzen Kindern, die letzteren können ihre Aggression nicht sprachlich loswerden, nur körperlich.
    Sonst noch Fragen?
    Besuch bei einer puertoricanischen Familie in einem Turmhaus. Das ist nicht mehr Brownsville, sondern Manhattan. Drei Zimmer mit Küche und Bad, Ausblick in einen Hof. Mutter mit sechs Kindern; vier Töchter in zwei Betten. Ein Sohn hat Hirnschaden, möchte gerne lesen, wird es aber nie lernen können. Der andere Sohn geht zur Schule und arbeitet.Was? Das sagt er nicht genau. Hingegen will er wissen, worüber ich Romane schreibe. Wir werden mit Bier bewirtet. Ein portugiesischer Sankt Martin auf dem Eisschrank, ein blonder Jesus über dem Sofa mit geplatztem Polster. Der Vater ist abgehauen nach Puertorico, und die Familie lebt von Wohlfahrt. Eine Tochter, fünfzehnjährig, ist gekämmt wie für einen Ball und schön; sie hat aber nichts vor; ihr kindliches make-up für einen Traum. Der Sohn will etwas lernen, sagt er, irgendeinen Beruf. Unter sich sprechen sie spanisch. Sie sind Amerikaner; aber zu Hause, in Puertorico, gebe es keine Hoffnung.
     
     
    Wir werden siegen, denn die Vereinigten Staaten haben nie einen Krieg verloren. Wehe den Friedensrufern, die nicht mehr an Gott glauben und an den Auftrag, den Gott der amerikanischen Nation erteilt hat!, sagt ein Pfarrer mit Doppelkinn und mit der Bibel in der
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