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Tag der Buße

Titel: Tag der Buße
Autoren: Faye Kellerman
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lange Jahre waren das gewesen. Aber für sie hatte sich das Warten gelohnt.
    Sie führte ihn in die Küche. Es war heiß und dunstig. Rinas Haar war größtenteils mit einem Tuch bedeckt, aber ein paar feuchte Strähnen hatten sich gelöst und umrahmten ihr schönes Gesicht. Sie schob ihren Arm unter seinen und drückte ihn an sich.
    »Akiva, ich möchte dir gern meine Schwägerinnen Esther und Shaynie vorstellen.«
    Decker fand es amüsant, daß sie ihn mit seinem hebräischen Namen anredete. Das tat sie nur in Boro Park. Zu Hause war er ganz einfach Peter. Er nickte den Frauen zur Begrüßung zu, hütete sich aber, ihnen die Hand zu schütteln. In dieser Kultur berührten Männer und Frauen sich nicht, es sei denn, sie waren miteinander verheiratet, und das Austauschen von Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit wurde mißbilligend betrachtet. Doch Rina schien sich über diesen kleinen Teil der Tradition hinwegzusetzen, und Decker war froh darüber. Er lächelte die Schwestern an – Frauen, mit denen er schon häufig am Telefon gesprochen hatte. »Schön, endlich die Gesichter zu sehen, die zu den Stimmen gehören«, sagte er.
    Beide lächelten zurück, wandten dann aber den Blick ab.
    Er schätzte Shaynie etwa auf sein Alter – ein- oder zweiundvierzig. Sie war zierlich, hatte ein ovales Gesicht, bernsteinfarbene Augen und ein warmes Lächeln. Sie trug kein Make-up, doch ihre Wangen waren rosig von der Hitze. Ihr Mann hieß Mendel und war Buchhalter.
    Esther war ebenfalls klein, aber kräftiger als ihre Schwester. Ihr Gesicht war voller, die Arme dicker. Sie hatte die gleichen bernsteinfarbenen Augen wie ihre Schwester und war ebenfalls ungeschminkt. Allerdings war ihr Gesicht nicht rosig, sondern blutrot. Sie starrte auf ihre Füße.
    Und Decker wußte, warum. Vor drei Monaten war ihr Mann Pessy bei einer Razzia in einem Massage-Salon in Manhattan festgenommen worden. Durch seine Beziehungen innerhalb der Polizei war es Decker gelungen, den Mann freizukriegen und sämtliche Anklagepunkte aus dem Computer zu löschen. Allerdings hatte er ein ungutes Gefühl dabei gehabt. Der Typ war nämlich ein absoluter Widerling. Er hatte sogar Rina belästigt, als sie in New York lebte. Die Bereinigung dieses kleinen Mißgeschicks bedeutete, daß er einigen Kollegen beim New York Police Department einen Gefallen schuldete. Und er stand nicht gern bei anderen in der Kreide.
    Doch die Familie Lazarus war dankbar gewesen, obwohl ihm das niemand ausdrücklich gesagt hatte. Ihre Dankbarkeit äußerte sich einfach darin, daß alle plötzlich viel höflicher zu ihm waren, wenn er Rina anrief.
    Eine weitere kleine schmutzige Angelegenheit, die sauber unter den Teppich gekehrt worden war.
    »Die Männer sind schon in die Mikwe gegangen«, sagte Sora Lazarus. »Soll ich Sie hinbringen?«
    »Laß uns ausnahmsweise darauf verzichten, Ima«, sagte Rina.
    Es war üblich, daß die Männer vor hohen Feiertagen das rituelle Badehaus aufsuchten. Doch bei der Vorstellung, mit anderen zusammen baden zu müssen, war Decker nicht ganz wohl. Er lächelte sie dankbar an.
    »Dann möchten Sie vielleicht Frühstück?« sagte Sora Lazarus. »Eine Tasse Kaffee?«
    »Eine Tasse Kaffee wäre wunderbar«, sagte Decker.
    »Dann setzen Sie sich an den Tisch«, sagte die kleine Frau. »Ich bring Ihnen Kaffee und ein bißchen Gebäck …«
    »Bloß Kaffee, bitte«, sagte Decker. »Schwarz.«
    »Schwarz? Keine Milch? Kein Zucker?«
    »Einfach schwarz, bitte.«
    »Rina«, sagte Sora Lazarus, »setz dich zu deinem Mann. Ich bring dir auch Kaffee.«
    »Ich hol ihn schon«, sagte Rina.
    »Laß doch den Unsinn«, schalt Sora Lazarus. »Setz dich hin.«
    Wenig später saßen sie allein im Eßzimmer an einem Tisch, der groß genug für ein Offizierskasino gewesen wäre.
    »Die Lazarus’ erwarten offenbar einigen Besuch«, stellte Decker fest.
    »Sechsunddreißig Personen. Den Kindertisch nicht mitgerechnet.«
    »Ein kleines intimes Essen also.«
    »Das ist Tradition«, sagte Rina. »Am ersten Abend des Rosch ha-Schana lädt meine Schwiegermutter immer die ganze Familie Levine ein. Am nächsten Tag gehen wir dann zum Mittagessen zu den Levines.«
    »Wie viele Levines sind das denn?«
    »Rabbi und Mrs. Levine, ihre fünf Kinder und wer weiß wie viele Enkelkinder. Und die Eltern von Mrs. Levine. Die müssen mittlerweile weit über Achtzig sein.«
    »Werden die alle jiddisch reden?«
    »Die Großeltern schon, aber die fünf Kinder sind in unserem Alter. Der älteste
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