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Tag, an dem meine Schwester zur Dämonin wurde

Tag, an dem meine Schwester zur Dämonin wurde

Titel: Tag, an dem meine Schwester zur Dämonin wurde
Autoren: O Krouk
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Entfernungen zu existieren. Die Dunkelheit hält sie gefangen, eine zähe Schwärze, die alles schluckt.
    Bis sich irgendwo vor ihr aus einer gleißenden Säule das Licht wie ein Vorhang entfaltet. Das Grelle tut in den Augen weh. Es strahlt Reinheit und Frische aus, als hätte ein Sommerregen den Staub einer Millionenstadt weggespült.
    Sieh hin . Was erkennst du dort?
    Zarah klammert sich an seine Hand, das einzig Reale an diesem Ort.
    Nichts. Sie wird nichts sehen, denn sie enttäuscht ihn, egal, was sie macht.
    Die Umrisse im Licht zeichnen eine Welt, die so unfassbar wie fremdartig ist, zu der sie niemals gehören wird. Vier oder fünf Gestalten bewegen sich dort, laufen einander nach, springen herum, toben.
    Das sind … Kinder. Menschenkinder!
    Sehr gut. Sieh genauer hin.
    Die Umgebung gewinnt an Konturen. Ein Junge jagt einem Grüppchen hinterher, tippt ein Mädchen, das er eingeholt hat, an und stürmt davon.
    Was bedeutet diese Hatz? Warum sollte jemand seine Gegner verfolgen, um sie dann am Leben zu lassen?
    Die kleinen Menschen sind merkwürdig. Ich verstehe nicht, was sie da tun.
    Es sind Kinder, die spielen.
    Zarah lässt sich seine Worte auf der Zunge zergehen. Kinder. Die spielen. Diese kleinen Menschen sehen fast genauso aus wie kleine Dämonen, die niemals spielen.
    Bin ich … auch ein Kind? Fragen zu stellen bedeutet Züchtigung. Ganz besonders solche Fragen. Er wird es nicht vergessen, auch wenn er jetzt eine Antwort gewährt: Du bist eine Dämonin. Aber es geht hier nicht um dich. Sieh genauer hin, sieh dir das Mädchen an, das nicht mit den anderen spielt.
    Da. Es sitzt in einer Art … Stuhl auf Rädern – vorn zwei kleine, hinten zwei große –, verfolgt das Spiel, und in seiner Miene glaubt Zarah eine Sehnsucht zu erkennen, die ihr schmerzlich bekannt vorkommt: den Wunsch, selbst eins dieser Kinder zu sein, zu spielen, dazuzugehören.
    Etwas an der Gestalt des Mädchens ist anders. Es wirkt zu dürr, zu klein und so zerbrechlich. Eine Schulter steht etwas höher als die andere. Dünne Beine ragen unter dem Rock heraus. Im Schoß des Mädchens liegen Löwenzahnblüten, aus denen es einen Kranz flicht. Gelbe Blumen, die heller leuchten als die Sonne, und trotzdem nicht mit dem Glanz in den hellgrauen Augen des Mädchens konkurrieren können.
    Sie ist kein Mensch.
    Sie ist eine kleine Prinzessin aus einem gläsernen Schloss, da ist Zarah sich sicher.
    Dummes Ding! Natürlich ist sie ein Mensch . Angesichts seines Zorns weicht Zarah von ihm, macht sich klein, doch er zieht an ihrem Arm und bringt sie zurück an seine Seite. Sie hat gehorsam zu sein, wenn er sie mitnimmt. Und nun hör mir gut zu. Die Kleine dort ist Enya Lark. Sie ist deine menschliche Zwillingsschwester.
    Oh. Wirklich?
    Ihre Zwillingsschwester hat sie sich immer anders vorgestellt. Stark, unbezwingbar – eine Amazone, die ihr etwas von ihrer Stärke verleihen würde, und kein Blumenmädchen, das ihre Sehnsucht nach Zärtlichkeit noch unerträglicher machte.
    Sie wurde zur gleichen Zeit geboren wie du, und die Magie hat euch aneinandergebunden. Diesem Mädchen darf nichts geschehen. Du bist verantwortlich für sie, hast du mich verstanden?
    Warum? Sie ist doch bloß … ein Mensch.
    Ein Mensch, ja, ja. Er tätschelt ihren Scheitel. Zumindest fühlt es sich so an, bis er sie bei den Haaren packt und ihr den Kopf in den Nacken biegt. Ein Mensch, durch den du geschwächt oder sogar getötet werden kannst. Es werden große Dinge geschehen, Zarah. Sehr große Dinge. Es ist von allergrößter Bedeutung, dass du auf Enya aufpasst. Egal, was passiert, du musst auf sie achtgeben. Hast du mich verstanden?
    Zarah stöhnt. Erneut zieht er an ihrem Haar. Versprich es mir!
    Ich verspreche es, dringt es durch ihre zusammengebissenen Zähne.
    Ich verspreche … sich noch am selben Tag alles Haar abzuschneiden. Ihr dichtes rotes Haar, das beim Kämmen ihren Rücken entlanggleitet und so schön in den ersten Sonnenstrahlen glänzt, wenn es ihr gelingt, sich am frühen Morgen nach draußen, in die Freiheit zu schleichen.
    Es muss weg.
    Vorausgesetzt, dass sie aus der Dunkelheit lebend herauskommt.
    Das Licht tat nicht mehr so weh in den Augen, und der Geruch von Desinfektionsmitteln und Medikamenten stieg ihr in die Nase. Allmählich gewöhnte sie sich an den künstlichen Schein der Neonröhren über ihr und drehte den Kopf. Vorsichtig, als erwartete sie, jede Sekunde einen Formwandler vor sich zu sehen.
    Ein Zimmer, vier mal vier Meter
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