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Tabu: Thriller

Tabu: Thriller

Titel: Tabu: Thriller
Autoren: Tom Egeland
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Sie blickt an ihrem Flanellhemd hinab, auf dem eine rote Rose blüht. Ihre Knie geben nach, sie sackt zusammen. Mama , denkt sie, er hat auf mich geschossen . Sie sieht direkt in die schwarze, seelenlose Linse von Rofferns Kamera. Ihr geht durch den Kopf, dass sie den Beitrag irgendwie abschließen muss: »Für ›24 Stunden!‹. Aus Jøkullfoss in der Telemark – ich bin Kristin Bye!«
    Aber als sie das Mikrofon hochnehmen und den Mund öffnen will, kommt kein Laut. Sie starrt in das schwarze Auge der Kamera, und als sie erneut etwas zu sagen versucht, kommt nur ein jämmerliches Wimmern. Das Mikrofon rutscht ihr aus der Hand. »Jetzt helft ihr doch!«, hört sie jemanden rufen. Hände greifen nach ihr, drehen sie auf die Seite, drücken ein Stoffstück auf das Feuer in ihrer Schulter, streichen ihr übers Haar. Und Roffern filmt die ganze Zeit, mit zusammengekniffenem linkem Auge, wie immer. Er tröstet sie nicht, filmt einfach nur, und durch den zähen Schleier aus Schmerz denkt sie, dass er nur seine Pflicht tut, er filmt, weil er filmen muss. Sie will die Männer wegstoßen, die sie festhalten, sie kennt sie nicht, das sind fremde, gesichtslose Riesen mit schusssicheren Uniformen. »Gunnar!«, ruft sie schluchzend. »Wo ist Gunnar?« Jemand hebt sie auf eine Trage, ihr Körper krümmt sich vor Schmerzen, sie blickt verzweifelt um sich. Roffern hebt die Kamera von der Schulter und nimmt sie in die linke Hand. Dann kommt er zu ihr und greift nach ihrer Hand. Sie sieht ihm an, dass er nicht weiß, was er sagen soll. Das macht nichts. Er drückt ihre Hand. Seine Augen glänzen, er sucht nach tröstenden Worten, etwas, das weder dumm noch banal ist, aber ihm fällt nichts ein. Eine Träne löst sich, dann eine zweite. Er hält ihre Hand ganz fest; er läuft neben der Trage die Treppe hoch, hoch zum Weg, bis zum Krankenwagen. Und die ganze Zeit hält er ihre Hand. Er lässt sie erst los, als sie die Trage in den Krankenwagen schieben. Die Schmerzen sind unerträglich. Die Tür knallt zu. Sie wimmert. Jemand presst ihr eine Sauerstoffmaske über Nase und Mund; einen Augenblick hat sie das Gefühl zu ersticken und wirft den Kopf hin und her. »So, so«, sagt eine Stimme. Jemand schneidet das Hemd auf. Durch die Tränen und das matte Glas sieht sie Gunnars Gesicht, das sich von außen an die Scheibe drückt. »Gunnar!«, schluchzt sie in die Sauerstoffmaske. »So, so«, sagt die Stimme. Sie sieht Rofferns verschwommene Silhouette. Er hebt die Kamera auf die Schulter. Der Krankenwagen beschleunigt und wirbelt eine grauschwarze Staubwolke auf. Gute Schlusssequenz, denkt sie, als die Sirenen losheulen.

Nachspiel
    An dem Tag, an dem Halvor beerdigt wurde, pflückte sie frühmorgens einen Strauß Wiesenblumen auf einer Lichtung über der Almhütte.
    Das war ein verzauberter Morgen. Das diesige Dämmerlicht zwischen den dunklen Stämmen im Wald war durchzogen von Lichtfäden. Ein moderig süßer Geruch waberte vom Sumpf herüber. Der feuchte Boden schmatzte, wenn sie mit den Gummistiefeln auftrat. Tief im Wald kollerte ein Auerhahn.
    Sie wusste genau, wo die Wiesenblumen wuchsen. In einer sonnenüberfluteten Talmulde, wo sie glaubten, es sei Frühling, bis der erste Herbstfrost sie dahinraffte. So spät im Jahr gab es nicht mehr viele. Aber für einen Strauß würde es reichen. Sie hatte ein Band und eine Plastiktüte mit einem nassen Wattebausch dabei.
     
    Zwei Tage zuvor war sie aus dem Krankenhaus entlassen worden.
    Alle hatten sie besucht. Gunnar und Roffern. Die Kollegen aus der Nachrichtenredaktion. Richard Wolter, voller Pläne und Ideen für eine Dokumentation. Er hatte sie schon im Voraus an achtzehn Länder verkauft. Unter dem Arbeitstitel: Aquarius: Der Killer unter uns . Der Chefredakteur bot ihr die Stelle als Sendeleiterin des neuen Sendeplatzes »24!« am Samstag an. Der Verlagslektor kam vorbei, um sich zu vergewissern, dass sie das Buch fertig schreiben würde. Runar Vang kam in Begleitung von Ådne. Sogar Marcus, den Arm voller Rosen und Zeitschriften, wartete auf dem Gang, dieser Arschkriecher.
    Die Schussverletzung an der Schulter war nicht lebensbedrohlich. Eine Fleischwunde, mehr nicht. Aber die Schmerzen waren unerträglich. Besonders nachts.
    Halvor wurde an einem Donnerstag beerdigt.
    Es war ein grauer Tag, der verkündete, dass der Herbst im Anmarsch war. Die weiße Kirche war voll. Kristin hatte nicht gewusst, dass Halvor so viele Bekannte hatte. Sie saßen dicht gedrängt auf den harten
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