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Tabu: Thriller

Tabu: Thriller

Titel: Tabu: Thriller
Autoren: Tom Egeland
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Holzbänken, in Stille gehüllt, überwältigt von der Tragödie, die einen aus ihrer Mitte getroffen und ihren abgelegenen, unschuldigen Flecken Erde ins Rampenlicht gestellt hatte. Schweigend und in sich gekehrt blätterten sie in ihren Gesangbüchern oder blickten zu dem Sarg. Jedes Räuspern oder Husten hallte in der ganzen Kirche wider.
    Der Pastor hielt eine lange Gedenkrede. Er las mit zitternder Stimme von einem handgeschriebenen Manuskript ab.
    Als Kristin ans Mikrofon trat, wurde es ganz still in der Kirche.
    Sie hatte kein Manuskript. Sie wunderte sich, wie leicht die Worte zu ihr kamen, wie natürlich es sich anfühlte, sich in dieser Weise von Halvor zu verabschieden. Sie erzählte von den Sommern in Bø. Wie ihr Halvor, ganz der große Bruder, mit dem Spiegel in der Hütte Angst eingejagt hatte. Über sein Lachen. Und dass er für sie da gewesen war, als ihre Eltern starben.
    Ihre Stimme versagte an keiner Stelle. Ihre Hände waren ganz ruhig. Jedes Mal, wenn sie aufschaute, klickten die Kameras der Pressefotografen oben auf der Galerie.
    Als sie nichts mehr zu sagen hatte, stand sie eine Minute schweigend vor dem Sarg, ehe sie die Wiesenblumen auf den Sargdeckel legte und sich zurück zu ihrem Platz auf der Bank begab.
    Gunnar hielt ihre Hand, als sie aus der Kirche gingen. Die Wolkendecke begann aufzureißen. Hoch oben am Hang, wie Flecken zwischen den Birkenblättern, konnte sie Bø sehen.
    Fast alle kamen, um ihr zu kondolieren. Schrecklich, das mit Halvor. Wirklich schrecklich! Und dann drückten sie ihre Hand und schauten ihr in die Augen. Wie um den Augenblick in ihrem Gedächtnis zu speichern.
    Gunnar blieb bei ihr am Grab stehen, bis das letzte Auto und die letzten Presseleute abgefahren waren. Der Pastor hatte ihnen beiden die Hand geschüttelt und war gegangen.
    Gunnar drehte sich zu ihr um und sah sie an. »Ich mach mich dann auch langsam mal auf den Heimweg.«
    Sie nickte.
    »Ich nehme dich gerne mit, falls du…«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Bist du ganz sicher?«, fragte er.
    »Ja.«
    »Ist dir das nicht zu einsam dort oben?«
    »Doch«, sagte sie. Und lächelte.
    »Wann kommst du zurück?«
    »Wer weiß? Wenn das Buch fertig ist?«
    Er stieß sie an. »Du würdest gerne hierbleiben, stimmt’s? Am liebsten würdest du gar nicht mehr zurückkommen, hab ich recht?«
    »Ich weiß es nicht, Gunnar.«
    »Norwegen wartet auf dich, Mädchen! Die Welt! Du bist jetzt ein Star!«
    »Ich weiß…«
    »Sämtliche amerikanischen TV-Sender haben dein Interview gebracht.«
    » Mein Interview war das ja nun wahrlich nicht.«
    »Tu nicht so, als wärst du nicht stolz darauf! Das Foto von dir und dem Teufel vor dem Wasserfall ist in dieser Woche auf der Times .«
    »Ich hab’s gehört.«
    »Dir gehört die Welt, Kristin!«
    Sie lächelte. »Ich weiß nicht, ob ich sie haben will.«
    Sie sahen sich lange an.
    »Weißt du«, sagte Gunnar, »in vier Tagen werde ich pensioniert.«
    Sie nickte. »Ich dachte…«, setzte sie an.
    »Ja?«
    »Ich werde Hilfe brauchen. Bei dem Buch. Und da dachte ich, ob ich mich vielleicht an dich wenden könnte?«
    Er drückte ihre Hand. »Du willst nur nett sein zu einem alten Wrack wie mir.«
    »Das ist mein Ernst!«
    »Ich weiß.« Er zog sie an sich. »Ich weiß, dass du es ernst meinst, Kristin. Und falls du tatsächlich Hilfe brauchen solltest, weißt du, wo du mich findest.« Er strich ihr übers Haar. »Aber du wirst das ganz alleine schaffen. Und wer weiß, vielleicht habe ich ja selber Pläne, ein Buch zu schreiben?«
    Sie sah ihn überrascht an. Aber er sagte nicht mehr dazu.
    Sie griff nach seiner Hand und begleitete ihn zu dem Leihwagen, den er unter der alten Eiche geparkt hatte. Sie nahmen sich in den Arm. Seine Bartstoppeln kratzten an ihrer Wange. Er setzte sich hinter das Steuer und wendete den Wagen mit unsicheren Bewegungen. Als er die Straße hinunterfuhr, winkte er durchs offene Seitenfenster. Sie stand am Straßenrand und erwiderte sein Winken, bis das Auto hinter der Kurve verschwand.
    Dann überquerte sie die Straße und ging zu dem Pfad, der nach Bø hochführte.
    Sie war verschwitzt, als sie die Alm erreichte.
    Sie stapfte durch das halb trockene Gras, riss einen Halm ab und schob ihn zwischen die Zähne, atmete den Duft des Spätsommers ein und ging einfach drauflos. Sie dachte nicht darüber nach, wohin sie ging, bis sie vor dem riesigen Felsen stand.
    Der Denkstein.
    Das letzte Mal war sie mit dreizehn oder vierzehn Jahren dort hinaufgeklettert.
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