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System Neustart

System Neustart

Titel: System Neustart
Autoren: William Gibson
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der Rumpf eines kleinen Flugzeugs an der Decke hing.
    Wie alt musste ein solcher Laden sein, um »Gay« im Namen zu tragen? Ein gewisser Prozentsatz dessen, was hier verkauft wurde, mochte noch zur Zeit der Besatzung in Japan hergestellt worden sein.
    Vor einer halben Stunde hatte er über den North Ocean Boulevard hinweg Kindersoldaten mit radikal kurz geschorenem Haar und fabrikneuen Knitterfalten in den Skateboarder-Klamotten dabei beobachtet, wie sie in China produzierte Orktöter-Klingen bestaunten, die mit ihren Zacken an die Gebisse ausgestorbener Raubtiere erinnerten. Der Stand des Verkäufers war mit Mardi-Gras-Kettchen, Strandtüchern mit Südstaatenflaggenmotiv und unautorisierten Harley-Davidson-Fanartikeln vollgehängt gewesen. Er hatte sich gefragt, wie viele der jungen Männer dort sich einen Nachmittag am Myrtle Beach gegönnt hatten, bevor sie zu irgendeinem Kriegsschauplatz transportiert wurden. Der Wind hatte Sand über den Grand Strand und die Promenade geweht.
    In den Spielhallen schienen manche der Automaten älter zu sein als er selbst. Und einige seiner eigenen Engel — nicht unbedingt die sympathischeren — murmelten etwas von einer uralten und tief verwurzelten Drogenkultur, die einen Teil des Kirmesdrecks bildete, der diesem Ort anhaftete und sich auf ewig mit ihm vermischt hatte; sonnenverbrannte Haut, unlesbare Tätowierungen, Augen und Gesichter, die an ausgestopfte Tiere an Tankstellen erinnerten.
    Er war hier mit jemandem verabredet.
    Eigentlich sollten sie sich alleine treffen. Er war jedoch nicht ganz allein. Irgendwo in der Nähe verfolgte Oliver Sleight einen Milgrim-Cursor auf dem Display seines Neo-Handys, das mit dem von Milgrim identisch war. Er hatte Milgrim das Neo auf jenem ersten Flug von Basel nach Heathrow gegeben und noch einmal betont, wie wichtig es sei, dass er es ständig eingeschaltet bei sich trug, außer wenn er sich an Bord eines Linienflugzeugs befand.
    Er trat von den hundsköpfigen Engeln weg und ließ den Schatten des Hais hinter sich. Schlenderte an Objekten vorbei, die anscheinend natürlicheren Ursprungs waren: Seesterne, Sanddollar, Seepferdchen, Muschelschalen. Dann erklomm er eine kurze, breite Treppe, die von der Strandpromenade zum North Ocean Boulevard hinaufführte. Und sah sich in Augenhöhe dem Bauch einer äußerst schwangeren jungen Frau gegenüber. Ihre mit elastischen Einsätzen versehene Jeans war so behandelt, dass sie ein groteskes Abnutzungsmuster aufwies, wie es durch normales Tragen niemals hätte entstehen können. Unter ihrem engen rosafarbenen T-Shirt zeichnete sich ihr vorstehender Nabel ab, was ihn beunruhigend an eine einzelne riesige Brust erinnerte.
    »Ich hoffe wirklich, dass Sie es sind«, sagte sie und biss sich auf die Unterlippe. Sie war blond und hatte ein Gesicht, das er sofort wieder vergessen würde, sobald er den Blick abwandte. Große, dunkle Augen.
    »Ich bin hier mit jemandem verabredet«, sagte er und gab sich dabei Mühe, ihr in die Augen zu blicken, auch wenn er sich unangenehm bewusst war, dass er eigentlich mit ihrem Bauchnabel - oder mit der Brustwarze direkt vor seinem Mund — sprach.
    Sie riss die Augen auf. »Sie sind kein Ausländer, oder?«
    »New York«, entgegnete Milgrim, nahm jedoch an, dass das kein Widerspruch war.
    »Ich will nicht, dass er in Schwierigkeiten gerät«, sagte sie leise, aber nachdrücklich.
    »Das will keiner«, beeilte er sich zu versichern. »Dafür besteht auch gar kein Anlass.« Sein bemühtes Lächeln fühlte sich wie das einer zusammengequetschten Gummipuppe an. »Und Sie sind ...?«
    »Im siebten oder achten Monat«, sagte sie ehrfurchtsvoll. »Dieser Ort hat ihm nicht gefallen. Er wollte nicht herkommen.«
    »Das will keiner«, sagte er und fragte sich dann, ob er das hätte sagen sollen.
    »Haben Sie GPS?«
    »Ja«, sagte Milgrim. Sleight zufolge verfügten ihre Neos sogar über zwei Arten von GPS, das amerikanische und das russische, wobei das amerikanische bekanntermaßen politisch vorbelastet war — in der Nähe von brisanten Standorten war es oft nicht verlässlich.
    »Er wird in einer Stunde dort sein«, sagte sie und gab Milgrim ein feuchtes, zusammengefaltetes Stück Papier. »Sie sollten sich besser auf den Weg machen. Und Sie sollten besser alleine kommen.«
    Milgrim holte tief Luft. »Tut mir leid«, sagte er, »aber wenn ich dorthin fahren muss, dann geht das nicht alleine. Ich habe keinen Führerschein. Mein Freund wird mich fahren müssen. Er hat einen
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