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Suter, Martin

Suter, Martin

Titel: Suter, Martin
Autoren: Allmen und die Libellen
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kleinen Salon, in dessen Mitte ein
großer Schiefertisch stand. Einige Zeitschriften lagen darauf. Offenbar
wartete man hier, bis man empfangen wurde.
    »Geht es ihm so schlecht?«, erkundigte sich Allmen
besorgt.
    »Nun, er ist seit ein paar Jahren blind, da ist man halt
mehr auf Pflege angewiesen, als wenn man das Augenlicht noch besitzt.«
    »Glauben Sie, er würde sich freuen, wenn ich ihm guten Tag
sage?« Sie zögerte.
    »Nur kurz. Vielleicht erinnert es ihn an die alten Tage.«
    »Ehrlich gesagt: Ich bin erst seit kurzem hier. In dieser
Zeit hatte er noch nie Besuch. Ich weiß nicht, ob es ihn freut.«
    »Vielleicht ist es einen Versuch wert?«
    Sie überlegte kurz. »Okay, kommen Sie.«
    Sie folgten ihr eine der Treppen hinauf durch einen
Korridor zu einer Tür. Dahinter lag ein behaglicher Wohnraum mit Blick auf den
vom Schneefall noch immer verhangenen See. Im Raum standen zwei Vitrinen voller
Glasobjekte. Vasen, Schalen, Skulpturen, alle Art nouveau. Die meisten von
Galle.
    »Bitte nehmen Sie einen Moment Platz«, bat die Pflegerin
und betrat das angrenzende Zimmer. Durch die geschlossene Tür hörte man sie
laut sprechen. »Besuch«, war zu vernehmen, »Schulfreund« und »nur kurz«. Sie
steckte den Kopf zur Tür herein. »Herr Werenbusch wird Sie kurz empfangen,
aber er braucht noch einen Moment.«
    Allmen und Carlos sahen sich im Raum um. Beide ließen
ihren Blick kurz auf der Vitrine ruhen, und sie nickten sich zu.
     
    Das Klingelzeichen von Allmens Handy ließ sie
aufschrecken. Es war Terry Werenbusch. »Wo bleibst du?«
    »Das wollte ich dich fragen. Ich bin hier, bei dir.«
    »Zu Hause?«
    »Natürlich.«
    »Ich erwarte dich hier. In meinem Büro.« Er klang
ungehalten.
    »Haben wir nicht bei dir zu Hause abgemacht?«
    »Bestimmt nicht.«
    »Verzeih, dann habe ich das verwechselt. Ich fahre jetzt
zu dir. Kannst du mir den Weg erklären?«
    »Du fährst... ach was. Ich bin in zwanzig Minuten da.«
    Fast zehn davon mussten sie warten, bis Werenbusch senior
empfangsbereit war. Die Pflegerin öffnete die Tür und bat sie herein.
    Allmen stand auf. »Nur ich. Herr de Leon wird so lange
warten.«
    Werenbusch saß in einem Ohrensessel. Er trug einen Anzug
mit einem Einstecktuch, ein hellblaues Hemd mit Krawatte und roch nach einem
frisch aufgelegten Eau de Toilette. Sein weißes Haar war dicht und frisch
gescheitelt. Die Augen blickten geradeaus, schienen aber nichts zu
fokussieren.
    »Wer sind Sie?«, fragte er mit der überlauten Stimme der
Schwerhörigen.
    »Allmen«, schrie der zurück. »Johann Friedrich von. Ich
war mit Terry im Charterhouse. Johnny, so hieß ich damals.«
    »Ich hatte mal einen Putz, der Vonallmen hieß. Früher
hatten wir Offiziere noch einen Putz.«
    »Das kann ich nicht gewesen sein, das war vor meiner
Zeit.« Er hatte es in amüsiertem Ton gesagt, aber es ärgerte ihn.
    »Vielleicht Ihr Vater?«
    Allmens Vater war tatsächlich während des Krieges
Offiziersputz gewesen, bevor er Gefreiter wurde. »Wohl kaum. Mein Vater war
Oberst. Kavallerie.«
    »Soso«, murmelte Werenbusch, »Kavallerieoberst.
Vonallmen...«
    Im Zimmer standen ein Krankenbett, ein Schrank, ein Tisch
mit einer angefangenen Patience. An den Wänden hingen Ollandschaften und Stillleben.
Und zwischen den beiden Fenstern, durch die man bei besserem Wetter den See
sah, Memorabilia aus Werenbuschs Militärzeit. Fotos vom Rekruten bis zum
Obersten. Gruppenfotos von seinem ersten Zug bis zu seinem letzten Bataillon.
Und unbeholfene selbstgebastelte Abschiedsgeschenke seiner Untergebenen.
    »Und? Was wollen Sie?«
    Die Pflegerin warf Allmen einen entschuldigenden Blick
zu.
    »Sie besuchen. Ich bin zufällig in der Nähe und habe eine
Verabredung mit Terry. Da dachte ich, ich schau auch schnell bei Ihnen rein.«
    Werenbusch schwieg.
    »So viel Schnee, Ende Oktober.«
    »Ich sehe nicht, wie viel Schnee es ist. Ich bin blind.«
    »Ich schätze, an die zwanzig Zentimeter. Und es schneit
noch immer.«
    »Es ist mir egal, wie viel Schnee liegt. Ich gehe nicht
mehr raus.«
    »Sehr vernünftig«, sagte Allmen freundlich.
    »Es hat nichts mit Vernunft zu tun. Ich habe keine Wahl.
Ich würde lieber rausgehen, das können Sie mir glauben. Ich wäre nämlich
lieber nicht blind, wenn Sie das nachvollziehen
können.«
    »Natürlich.« Allmen sah achselzuckend die Pflegerin an.
Sie nickte.
    »Es war nämlich keine Entscheidung, blind zu werden.
Schon gar keine vernünftige!«
    »So, Herr von Allmen muss jetzt wieder gehen, er hat
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