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Sueße Prophezeiung

Sueße Prophezeiung

Titel: Sueße Prophezeiung
Autoren: Shana Abe
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tanzten. Er hatte Albträume. Das lag auf der Hand. Jeder konnte es erkennen. Nicht nur eine Hexe.
    Sie war keine Hexe. In der Tat glaubte sie nicht einmal an diese Wesen. Hexen waren ein zweckmäßiges Übel, erdacht von furchtsamen Männern, um das Unbekannte zu benennen. Hexen gab es in Wirklichkeit gar nicht. Es waren nur arme, einsame Frauen, die keine Beschützer hatten, und Avalon gehörte gewiss nicht zu ihnen.
    Leider wurden Hexen öffentlich verbrannt. Es passierte dauernd.
    Die weder arme noch einsame Avalon hatte jedoch einen verlässlichen Beschützer, und zwar in sich selbst.
    Das war ungewöhnlich für eine Edeldame, und ihre Andersartigkeit trat hier am Hofe von König Henry deutlich zutage. Am Anfang ihres Aufenthaltes in London hatte sie angenommen, dass die Ausgrenzung, die sie erfuhr, auf ihre recht ungewöhnliche Vergangenheit zurückzuführen sei, die dem Klatsch immer wieder Gesprächsstoff lieferte. Nun, an seiner Vergangenheit konnte man nichts ändern. Dass diese Eigentümlichkeit – diese Andersartigkeit – sie schon ihr ganzes Leben lang begleitete, versuchte Avalon zu verdrängen. Es war ein schwerer Schock für sie gewesen, als sie mit sieben Jahren erkennen musste, dass nicht jeder sie gern hatte. Nicht jeder konnte die Dinge sehen, die sie sah, konnte die Dinge hören, die sie hörte. Nicht jeder schaffte es, sich in die Stimmungen von Tieren einzufühlen, sich in aufkommende stärkere Emotionen ringsum hineinziehen zu lassen.
    Avalon schon.
    Das war nicht immer so. Es gab lange Tage, Wochen, ja sogar einige herrliche Monate, in denen offensichtlich dieses Bewusstsein in ihr, diese schreckliche Chimäre, schlief und sie die Rolle eines normalen Mädchens spielen durfte. Avalon pflegte diese Zeitspannen wie einen Schatz zu hüten und sich nach ihnen zu sehnen. Aber irgendwann erwachte es immer wieder, öffnete sich das unbarmherzige Auge in ihr, sodass sie all das erblickte, was sie nicht sehen wollte.
    Als sie das begriff, richtete sie ihr ganzes Trachten und Streben darauf, dies im Körper wie im Geist zu ändern. Mit der Zeit hatte sie sich selbst davon überzeugt, dass jene Zustände Ausgeburten ihrer Fantasie waren – vom allgegenwärtigen und bedrohlichen Aberglauben genährt, der ihre Kindheit prägte.
    In ihren dunkelsten Augenblicken, in ihren Albträumen nahm die Stimme eine nebelartige Gestalt in ihrem Geist an. Ein monstergleiches Fabelwesen, ein sagenumwobenes Ding, von dem ihr Kindermädchen ihr einst erzählt hatte und das in ihrer Erinnerung hängen geblieben war. Es setzte sich aus verschiedenen Elementen zusammen: dem Kopf eines Löwen, dem Körper einer Ziege und dem Schwanz einer Schlange.
    Eine Chimäre. Nur durch sie hauchte das Wesen seinen dunstigen Feueratem. Es besaß Augen und eine Stimme, die nur in ihr lebten. Sie empfand dieses Geheimnis als schrecklich, und wenn die Dunkelheit sich wieder in Tageslicht verwandelte, vertrieb Avalon das Bild mit aller Macht.
    Chimären waren genau wie Hexen nicht real. Tatsächlich passierten ihr seltsame Dinge, ja, sogar manchmal unerklärliche. Aber sie waren alles andere als übernatürlich. Dieser Vorstellung zu erliegen würde den ganzen Irrsinn bestätigen: den irrationalen Aberglauben, den Hanoch Kincardine und seine Familie in Schottland aufrechterhalten hatten, ihr beharrliches Festhalten an einem obskuren Märchen, von dem sie angeblich ein wesentlicher Bestandteil sein sollte.
    Avalon war nicht die Verkörperung der bizarren Familienlegende der Kincardines. Sie hielt das für absurd.
    Doch trotz all ihrer vernünftigen Überlegungen konnte nichts sie von den merkwürdigen Visionen verschonen, die sie überkamen; niemals gelang es ihr völlig, die Chimäre abzutöten. Und deshalb hatte Avalon fast ihr ganzes Leben lang stets so getan, als gäbe es da nichts.
    Hanoch hatte über ihre Anstrengungen gelacht.
    »Du gehörst zum Fluch«, hatte er häufig zu ihr gesagt. »Sei dir dessen bewusst, Mädchen. Versteck ihn nicht. Er ist die einzige Stärke, die du hast.«
    Doch sie wehrte sich. Erbittert kämpfte sie gegen Hanoch an, um zu beweisen, dass sie viele Stärken besaß, nicht das schwache oder zerbrechliche Mädchen war, das seine höhnischen Bemerkungen peinigten. Fast jeden Tag hatte sie sich bei kleinen und großen Dingen gegen ihn aufgelehnt. Sie hatte sich geweigert, sich der närrischen Legende des Clans zu beugen, sich gesträubt, den Unsinn, den sie ihr erzählten, zu glauben – dass sie diejenige sei,
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