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Suesse Hoelle

Suesse Hoelle

Titel: Suesse Hoelle
Autoren: Linda Howard
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übernatürlicher Sinn sich verschlossen hatte. Sechs Jahre lang hatte sie wie ein normaler Mensch gelebt und hatte es genossen. Sie wollte, dass dieses Leben so weiterging. Langsam, über die Jahre hinweg, hatte sie die Hoffnung genährt, dass ihre Sehergabe nicht zurückkehren würde. Doch sie hatte sich geirrt. Vielleicht hatte es so lange gedauert, bis ihr Verstand geheilt war; aber jetzt waren die Visionen wieder da, stärker und noch viel auslaugender als je zuvor.
    Ihre Sicht erfolgte jetzt durch die Augen des Mörders.
    Ein Teil von ihr hoffte immer noch... aber was? Dass es vielleicht doch nicht die Realität war? Dass sie dabei war, den Verstand zu verlieren? Wäre es ihr wirklich lieber, einer Täuschung zu erliegen, als die Rückkehr ihrer Visionen sowie das Ende ihres normalen Lebens zu akzeptieren?
    Sie hatte die Sonntagszeitung durchgeblättert, doch war es ihr nicht gelungen, sich zu konzentrieren; die Erinnerungsblitze hatten sich überstürzt, waren zu heftig gewesen. Da stand nichts von einem Mord, nichts, das eine Reaktion bei ihr hervorgerufen hätte. Vielleicht hatte es einen Artikel in der Zeitung gegeben, und sie hatte ihn nur übersehen, sie wusste es nicht. Vielleicht war es ja auch nicht hier in der Nähe geschehen, und sie hatte nur durch Zufall die mentalen Signale des Mörders empfangen. Wenn die Frau in einer anderen Stadt lebte, vielleicht in Tampa oder Daytona, dann würde es nicht in der Zeitung von Orlando stehen. Marlie würde nie erfahren, wer diese Frau gewesen war oder wo sie gelebt hatte.
    In gewisser Weise war sie feige. Sie wollte es gar nicht wissen, wollte nicht, dass die Hellsichtigkeit wieder Teil ihres Lebens wurde. Sie hatte sich hier in Orlando ein sicheres und solides Leben aufgebaut, es würde zerstört werden, wenn sie sich wieder in diese Dinge verwickeln ließe. Die Reihenfolge war ihr bekannt: Zuerst kam der Zweifel, ihm folgte der Spott. Und dann, wenn die Menschen gezwungen waren, die Wahrheit zu akzeptieren, reagierten sie misstrauisch und ängstlich. Sie würden ihr Talent gern benutzen, doch ihre Freunde wollten sie nicht sein. Menschen würden sie meiden, kleine Kinder in ihre Fenster blicken und dann schreiend weglaufen, wenn sie sie entdeckten. Die älteren Kinder würden sie >Hexe< nennen. Und es war ganz unvermeidlich, dass irgendein religiöser Fanatiker etwas über das >Werk des Teufels< in die Welt setzte, und vor ihrem Haus würden sporadisch Mahnwachen auftauchen. Nein, sie müsste dumm sein, dieses Kapitel nochmals aufzurollen.
    Aber sie konnte nicht aufhören, sich Gedanken über das Opfer zu machen. Es war eine Art schmerzliches Bedürfnis, wenigstens ihren Namen zu wissen. Wenn jemand starb, dann sollte wenigstens der Name des Menschen bekannt werden, als eine kleine Verbindung zur Ewigkeit, die bedeutete: Dieser Mensch war hier, dieser Mensch hat bei uns gelebt. Ohne Name war alles leer.
    Deshalb stellte sie jetzt den Fernsehapparat an, obwohl sie noch immer vor Müdigkeit zitterte; zerstreut wartete sie darauf, dass die Lokalnachrichten begannen. Ein paarmal wäre sie fast eingenickt, doch immer wieder riss sie sich zusammen.
    »Wahrscheinlich hat das alles gar nichts zu bedeuten«, murmelte sie vor sich hin. »Du wirst den kürzeren ziehen, das ist alles.« Ein eigenartiger Trost, aber ihr half er. Die geheimen Ängste der Menschen unterschieden sich, und sie wäre lieber verrückt, als dass sie recht behielt.
    Der Bildschirm des Fernsehgerätes flackerte, als ein neues Thema begann; diesmal erging der Sprecher sich eine ganze Minute über die Auswirkungen der Crack-Banden in der Innenstadt. Marlie blinzelte, sie bekam plötzlich Angst, dass die Bilder, die sie im Fernsehen sah, sie mit Visionen überhäufen würden, wie damals, als sie die Gefühle der Menschen, die sie beobachtete, hatte lesen können. Doch nichts geschah. Ihr Kopf blieb leer. Nach einer Minute entspannte sie sich und seufzte erleichtert auf. Nichts fühlte sie, keine Verzweiflung und auch keine Hoffnungslosigkeit. Ihre Laune besserte sich ein wenig - wenn diese Bilder und Gefühle sie nicht erreichen konnten, so wie in der Vergangenheit, dann wurde sie ja vielleicht wirklich ein wenig verrückt.
    Sie blickte weiter auf das Fernsehbild und ließ sich davon einlullen. Schließlich gab sie der Müdigkeit nach, versank in einen leichten Schlummer, obwohl sie halbherzig versuchte, wach zu bleiben, um auch den Rest der Nachrichten mitzubekommen.
    - »... NADINE VINICK
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