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Sündenfall: Roman (German Edition)

Sündenfall: Roman (German Edition)

Titel: Sündenfall: Roman (German Edition)
Autoren: Anya Lipska
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lachend und Witze reißend vor den Überresten ihrer Mahlzeit saßen. Oskar baute sich breitbeinig vor ihnen auf und ließ eine polnische Schimpfkanonade los.
    »Was, im Namen der Heiligen Jungfrau, habt ihr noch hier zu suchen, ihr Hurensöhne?«, brüllte er. »Was habe ich euch gestern gepredigt? Wenn ihr noch einmal zu spät kommt, habe ich wieder den Bauunternehmer an der Strippe, der droht, mir die Eier abzureißen.«
    Die Jungen sprangen so hastig auf, dass einige in ihrer Eile, die Tür zu erreichen, über die Beine ihrer Stühle stolperten. Die übrigen Gäste blickten laut lachend von ihren Tellern auf und weideten sich an dem Spektakel. Oskar war nicht mehr zu bremsen.
    »Glaub bloß nicht, dass ich deine hässliche Fresse nicht gesehen habe, Karol, du Schwanzlutscher. Auch wenn deine Mama dich nach dem verdammten Papst benannt hat, Gott schenke seiner Seele Frieden« – er bekreuzigte sich, ohne Luft zu holen –, »habe ich die Granitarbeitsplatte nicht vergessen, die du auf dem Gewissen hast. Am Zahltag fick ich dich in den dupa .«
    Nachdem sich der letzte Sünder gesenkten Hauptes getrollt hatte, atmete Oskar zufrieden durch. Im nächsten Moment entdeckte er Janusz, und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. » Cze ść , Janek!«
    Janusz stand auf, um seinen Freund zu begrüßen, und hielt ihm, ohne nachzudenken, die Hand hin. Brüllend vor Lachen umarmte Oskar ihn fest und küsste ihn dreimal auf beide Wangen, ohne auf die ausgestreckte Hand zu achten. Janusz räusperte sich. Obwohl eine überschwängliche Begrüßung wie diese unter Polen üblich war, empfand er sie nach zwei Jahrzehnten in England als peinlich.
    Oskar stützte die eine Hand in die Hüfte, deutete mit der anderen ein affektiertes Händeschütteln an und setzte sich. »Du bist schon zu lange in England, Kumpel. Wenn das so weitergeht, treibst du es irgendwann noch mit Kerlen!« Er kicherte über seinen eigenen Witz.
    Janusz lächelte gequält. Er liebte Oskar wie einen ungeratenen kleinen Bruder, denn sie waren seit dem ersten Tag ihres Militärdienstes 1980 Freunde – doch er konnte einem auch ordentlich auf die Nerven gehen. Janusz hatte das Bild noch deutlich vor Augen. Ein regnerischer Tag hinter dem Stacheldraht von Lager 117 in der Kaschubischen Seenplatte. Die in Reih und Glied stehenden Wehrpflichtigen wirkten mit ihren frisch geschorenen Köpfen und den mindestens zwei Nummern zu großen Uniformen eher wie zerzauste Jungvögel als wie Soldaten. Er spürte, dass Wut in ihm aufstieg. Mit siebzehn hätten er und Oskar – hätten alle diese jungen Männer – voller Träume sein sollen. Doch stattdessen erwartete sie nun eine endlose, Monate dauernde Ausbildung, um der Bedrohung durch einen Einmarsch westlicher Imperialisten begegnen zu können. Und was kam danach? Kriegsrecht, Ausgangssperren und Rationierungen … die triste Realität des Sozialismus eben.
    Oskar wies mit pummeliger Hand auf den Tisch, an dem seine arbeitsscheuen Leute gesessen hatten. »Aber mal im Ernst«, sagte er. »Diese Bürschlein wissen ja nicht, was sie heutzutage für ein Luxusleben führen. Die haben keine Ahnung, wie es in den Achtzigern auf den Baustellen zuging. Zwölfstundenschichten, keine Arbeitsschutzbestimmungen. Ganz zu schweigen von einer Stunde Mittagspause. Wir hatten ja nicht einmal Zeit für einen Imbiss.«
    Janusz brummte zustimmend. »Und wer auf eine Schutzbrille oder einen Gehörschutz bestand, musste sich die Dinger selbst kaufen«, fügte er hinzu und riss sich ein Stück Brot ab.
    Oskar wischte mit dem Ärmel ein Guckloch in der beschlagenen Scheibe frei und beobachtete den Verkehr. »Erinnerst du dich noch an diesen chuj ?«, fragte er. »Den irischen Polier auf der M25-Baustelle, der uns behandelt hat wie den letzten Dreck?«
    »Meinst du vielleicht den, dem du in die Thermosflasche gepinkelt hast?«, erwiderte Janusz mit hochgezogener Augenbraue.
    »Ja, genau den«, antwortete Oskar, und ein engelsgleiches Lächeln breitete sich auf seinem runden Gesicht aus.
    »Himmel, Arsch und Wolkenbruch«, fügte er mit einem Blick auf Janusz’ Teller hinzu. »Was isst du da für einen Mist?« Er wandte sich an das Mädchen, das gerade gekommen war, um die Bestellung entgegenzunehmen. »Ich nehme auch den bigos , Schatz. Sieht lecker aus.«
    Nachdem sie fort war, verspeiste Janusz den letzten Bissen und schob seinen Teller weg. »Vielleicht ein bisschen zu viel Paprika, und die Ente war ein wenig zu gut durchgebraten.
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