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Süchtig

Titel: Süchtig
Autoren: Matt Richtel
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zurückkehren musste. Annie erzählte mir, dass sie bei Kindle Investment Partners, der Firma ihres Vaters, arbeitete, weil sie herausfinden wollte, ob sie eine Begabung dafür besaß, durch die richtige Investitionsstrategie aus kleinen Unternehmen große Unternehmen zu machen. Sie selbst fand sich in dieser Hinsicht nicht besonders talentiert, aber ihr Vater
war anderer Ansicht. Er sei einer der mächtigsten Risikokapitalanleger im Valley, sagte sie ohne jede Prahlerei. Wenn sie von ihrer Arbeit sprach, klang sie müde.
    »Und was würden Sie lieber tun, als das große Geld zu verdienen und Technologie zu entwickeln, die die Welt verändert?«, fragte ich.
    Das gab ihr zu denken. »Immerhin habe ich einen Abschluss in Computertechnologie.«
    »Offensichtlich hält sich Ihre Begeisterung dafür in Grenzen.«
    »Ich weiß auch nicht, vielleicht wäre ich gern Psychologin. Psychologie war mein Nebenfach.« Dann begannen ihre Augen zu funkeln, als wäre ihr ein Gedanke gekommen. »Am liebsten wäre ich Tierärztin.«
    »Sie könnten beides miteinander verbinden – Tiertherapeutin«, schlug ich vor. »Ich hatte mal einen Hund, der hätte ein paar Stunden auf der Couch gut gebrauchen können.«
    »Bei Tieren weiß man immer, woran man ist. Futter und Liebe, Futter und noch mehr Futter«, sagte sie. »Man kann ihnen eher vertrauen als Menschen.«
    »Menschen müssen auch essen.«
    »Letztendlich ist wohl jeder bestechlich.«

    Ich erzählte ihr in groben Zügen meine Geschichte. Ich war in Denver aufgewachsen, als Kind großzügiger, aber nur zur Mittelschicht gehörender Regierungsangestellter. Wann immer möglich, ging ich am Wochenende zum Wandern, Klettern und Angeln in die Berge. Teils, weil ich gern an der frischen Luft war. Teils, weil ich einfach nur weg wollte. »Mein Bruder war überall der Beste.«

    »So etwas kenne ich«, sagte sie.
    »Sie haben auch einen Bruder?«
    »Nein, aber ich kenne das Gefühl, im Schatten zu stehen. Bei mir ist es mein Vater. Er hat große Pläne für mich. Seine ›lächelnde Vollstreckerin‹ nennt er mich. Sehe ich aus, als würde ich lächeln?«
    »Eher grinsen.«
    »Er denkt, ich bin wie er. Angeblich bin ich aus Stahl.« Sie sprach plötzlich eine Oktave tiefer: »Annie, die Kindles sind Eroberer!«
    »Wie Dschingis Khan sehen Sie aber nicht gerade aus.«
    »Bei Ihnen scheint meine Taktik zu funktionieren«, sagte sie.

    Annie konnte wunderbar zuhören. Ihr Blick hing an mir, als ich ihr von mir erzählte.
    Zum Beispiel von dem Vorfall, der das Ende meiner Laufbahn als Arzt eingeläutet hatte. Im dritten Studienjahr absolvierte ich ein Praktikum in der pädiatrischen Onkologie und schloss dabei Freundschaft mit einem Neunjährigen, der an Leukämie erkrankt war. Am Mittwochnachmittag nahm ich mir immer eine Stunde Zeit für Jacob. Meistens spielten wir »Mensch ärgere dich nicht«.
    Dann bekam er eine Lungenentzündung, die ihn in seinem geschwächten Zustand innerhalb von zwei Wochen umbringen musste. Der betreuende Arzt wollte der Natur ihren Lauf lassen, aber ich fand, wir sollten die Lungenentzündung mit Antibiotika behandeln und anschließend bei der Krebserkrankung auf eine Remission hoffen. Das war nicht unvernünftig, aber ich hatte
von der Infektion erfahren, nachdem ich am Vortag mein übliches Spiel mit Jacob hatte ausfallen lassen. Von Schuldgefühlen gepeinigt, stritt ich mich vor den Eltern heftig mit dem Arzt. Er bat mich auf den Gang hinaus und erklärte mir, ich sei zu engagiert – was im Medizinerjargon für »unprofessionell« stand.
    Annie riss die Augen auf. »Was haben Sie gesagt?«
    »Na ja, ich habe ihn mehr oder weniger mit Dr. Kevorkian verglichen.«
    Annie fing an zu lachen.
    »Mit dem Kerl, der wegen mehrfacher Sterbehilfe im Gefängnis sitzt? Sie haben Ihren Chef praktisch einen Mörder genannt.« Das klang beeindruckt. »Das ist entweder sehr mutig oder extrem dumm.«
    »Die Eltern waren meiner Meinung. Der Junge bekam die Antibiotika und lebte noch zwei Monate.«
    Ich erhielt eine Abmahnung, natürlich nicht wegen Jacobs Tod, sondern wegen meines überzogenen Protests.
    Je mehr ich Annie von mir erzählte, desto weniger sah ich sie an. Stattdessen starrte ich wie gebannt auf die allmählich erstarrenden Reste einer Portion Nachos. Aber ich nahm jede ihrer Reaktionen intensiv wahr. Ich hatte das Gefühl, dass sie meine Sicht der Welt aufgriff und sie sich zu eigen machte. Für mich war das eine willkommene Abwechslung, nachdem die meisten
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