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Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs

Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs

Titel: Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs
Autoren: Andreas Altmann
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wenig verführerisch kommt sie daher. Es scheint, so die tapfere Publizistin, »als zöge eine rastlose Verblödungsmaschinerie über den Planeten«.
    Der letzte Satz war wichtig, sonst käme noch der Verdacht auf, nur Thailänder würden verdummt. Wir alle sind Opfer. Doch das ist der Unterschied zwischen den »Vielzuvielen« (Friedrich Nietzsche) und der »ungeheuren Minderheit« (Juan Ramón Jiménez): Rennen die vielen ins große Gatter, um mitzublöken mit der blökenden Mehrheit, so suchen die wenigen nach Gegengiften, um nicht verseucht zu werden vom Virus zerebraler Trägheit. Für sie will ich als Marktschreier auftreten und zwei Drogen als exquisites Heilserum anpreisen: Reisen und Lesen.

    FAHRT INS GLÜCK
    Das Glück kann keiner kommandieren. Der Satz stimmt weltweit, nur zwischen New Delhi und Varanasi stimmt er nicht. Wer sich in der indischen Hauptstadt in den Zug Richtung Osten setzt, den wird das Glück umhauen. Ich weiß, wovon ich rede, ich war dabei.
    Die Freude ging los mit Mister und Missis Sandip, die mit mir im Abteil saßen, beide auf dem Weg nach Kolkatta, beide rastlose Leser. »Are you a happy man?«, fragte ich ihn. Und der pensionierte Lehrer wackelte mit dem Kopf zur Bejahung, sagte den Satz aller Weisen: »I am content«. Er war zufrieden mit dem, was er hatte. Keine Gier franste an ihm, kein Ego musste stündlich massiert werden.
    Indien kann anstrengen. Aber die nächsten zwölf seligen Stunden musste ich vor keinem Vehikel zur Seite hechten, musste um kein Billett raufen, musste nie hitzeblöd der Sonne ausweichen. Jetzt galten andere Gesetze. Der Schaffner brachte den Chai, die Tomatensuppe, ein paar Fladen Chapati, sein lässiges Grinsen. Eine ambulante Wahrsagerin zog vorbei und sagte die Wahrheit, prophezeite eine sichere Ankunft. Die Ventilatoren surrten.
    Ein Blick in die Bordküche erlaubte die Vermutung, dass die Kessel, in denen die Kartoffeln schmorten, noch aus der Feldkombüse des Dschingis Khan stammten. Einen Schritt daneben lehnten die Gasflaschen. Ich zählte nach und kam auf sieben Waggons, die sich zwischen einer möglichen Explosion und meinem Fensterplatz befanden. Das reichte zum Überleben.
    An jedem Bahnhof drängten die Gepäckträger herein. Und mit schweren Koffern auf dem Kopf zwängten sie sich wieder hinaus. Ausgesprochen geheimnisvoll der Anblick ihrer Waden. Noch nach dreißigtausend Koffern wollten die dünnen Beine keine Muskeln zulegen. Unergründliche Inder.
    Als die Dämmerung kam, setzte ich mich an die offene Zugtür. Neben Prasad. Der arme Teufel brauchte weniger Platz als ich, ihm fehlten beide Beine, verloren gegangen bei einem Unfall. Als ich die mitgebrachten Erdnüsse mit ihm teilte, teilte er sie mit dem Bettler hinter ihm.
    Wir drei redeten kaum, spürten den trockenheißen Loo, den Wüstenwind aus Rajastan, fuhren an Indien vorbei, sahen die Dämmerung kommen, sahen die frühen Schläfer auf den Dächern der Dörfer, die Kraniche auf den Rücken der Büffel, die Weizenbündel auf den sauber gezirkelten Feldern. Hörten, wie das Land still wurde und ausatmete. Begleitet vom gleichmäßigeinlullenden Rattern des Zugs.
    John Ford meinte einmal, dass ihn in Augenblicken innigster Freude das Gefühl überfiel, keine Zähne mehr im Mund zu haben. Hier wären sie ihm auch abhandengekommen. Zahnlos vor Glück kamen wir an.

    MEIN PARISER CAFÉ – FLUCHTPUNKT, KLAGEMAUER, LIEBESNEST
    In Marokko heißen Kaffeehäuser »Café tue temps«, wörtlich und grausam übersetzt: Kaffee tötet Zeit. Aber phantasievoller interpretiert soll es bedeuten: Hier kann ich hocken und schauen und keiner wirft mich hinaus! Man zahlt nicht für das Getränk, man zahlt für den Stuhl, für den Fluchtpunkt, für die grandiose Aussicht auf andere, die – vor der Glasscheibe – malochen und schwitzen. Ein Café ist kein Café, es ist eine Nervenheilanstalt, ein öffentlicher Ort, der wie kein anderer zum Weltfrieden beiträgt. Da Paris irgendwie zu Afrika gehört, sind hier die Zustände ganz ähnlich: Ich sitze, also bin ich.
    Ich lebe im elften Arrondissement, nicht weit von der Bastille. Das Viertel gilt als »populaire«, als pariserisch. Kaum Touristen, nirgends ein ödes Starbucks , dafür alle fünfzig Meter ein Bistro, das zur Einkehr verführt. Mein Café ist weder schick noch berühmt, es ist – welch fabelhaftes Plus – international. Die Gelben und Schwarzen kommen, der jüdische Fleischer und der arabische Gemüsehändler, Kettenraucher Louis (okay, er
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