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Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs

Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs

Titel: Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs
Autoren: Andreas Altmann
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it might be here, it might be here, it might be here.«
    Beide Sätze erzählen von der Wirklichkeit. Old Delhi gilt als Ort schwindelerregender Daten. Zwei Millionen indische Menschen und indische Tiere wimmeln auf fünf Quadratkilometern Erde. Zuwachsrate: rasend. Ächzende Schimmelbuden und rindviehverschissene Gassen, Verkehrsorgien, ein Drogennest, Hinterhofprostitution, Steinzeitarbeit, das zum Himmel schreiende – ja sie schreien es – Unglück kaputt geborener Zombies.
    Wer sich her wagt, sollte sich vorher wappnen. Um die Seitenblicke in die Hölle zu bestehen. Hat einer Glück, betritt er zwischendurch das Paradies. Hat einer viel Glück, betritt er es immer wieder.
    Ich kam bei Moraji vorbei. Ich war kaltblütig und bat um eine Rasur. Hinterher schien der »Master of Hairdressing« beleidigt. Weil ich keinen Haarschnitt verlangte. »Wenigstens ein bisschen Pomade?«, meinte er. Sein sardonisches Lächeln hätte mich warnen sollen. Der Mann verdingte sich nebenberuflich als Kopfjäger, Catcher und Dominateur, warf einen Batzen braunen Talg auf die Schädeldecke, walkte sie mit seinen zehn glitschigen Fingern, mangelte die Schläfen, presste die Stirn, fegte die Nasenlöcher, zupfte die Lider, bog die Ohren, stocherte nach Schmalz, packte blitzschnell mit beiden Händen den Kiefer, riss Kunde und Kopf nach rechts, wiederholte den Trick nach links, kümmerte sich einen Dreck um das Angstgurgeln seines Opfers, nahm es zuletzt in den Schwitzkasten und platzierte einen kantenscharfen Genickschlag: »Finish!« Während ich dachte, ich bin tot, griff ich umgehend nach meinem Kopf. Er war noch da. So leicht, so schwerelos fühlte er sich an. Unfassbar, an welch abstrusen Orten das Glück ausbrechen konnte. Morajis Barber’s Palace bestand aus einem Stuhl zwischen zwei geparkten Autos.
    Oft überkam mich ein schlechtes Gewissen. Weil es mir gut ging, zu gut, um es leichtsinnig und dankbar auszuhalten. Balbir winkte mir. Er und seine Freunde arbeiteten auf der Wiese hinter dem Rathaus. Als Masseure. Dreimal hatte ich der Versuchung widerstanden, diesmal wollte ich schwach sein und legte mich ins Gras. In Unterhose. Nur ein paar Schritte von uns entfernt zogen die sieben Todsünden der Menschheit vorbei. Der Krach und die Giftwolken waren untrügliche Zeichen, dass wir dem Untergang Old Delhis nicht entkommen würden. Aber jetzt war jetzt. Zudem wirtschaftete Balbir hier, sprich, das Genie Indien holte aus und der »magician of skin«, so prahlte er wortwörtlich und wahrhaftig, würde »meinen Leib verzaubern«.
    Der schmerzhaften Vollständigkeit wegen sei noch erwähnt, dass der siebenfache Familienvater ihn, den Body, zunächst verfluchte. Kaum griffen seine Schlächterhände nach ihm, hörte ich mein Skelett rumpeln, Balbir hatte den Kampf aufgenommen, quetschte den Leib, streckte ihn, schrumpfte ihn, schrubbte und schuppte die trägen Muskeln, melkte Arme und Beine, bohrte sich mit den Knien in meine Hinterbacken, verrenkte die Füße, rastete sie wieder ein, pflanzte den eigenen Hintern auf meine Lendenwirbel, wetzte damit entlang des Rückens und beschloss irgendwann, nicht zu früh, den aufgewühlten Körper zu glätten, zu besänftigen, ja in eine seligmachende Bewusstlosigkeit zu befördern. Warm, sacht, schonend. Mit zauberischen Händen.
    Vor der Ohnmacht fiel mein Blick noch auf das Schild eines »Sex-Specialist«. Ich grinste dankbar. Gestern nahm ich die Dienste des Experten in Anspruch. Der Check-up bei Mister Singh war ein Traum. So lustig konnte Sex sein, wenn einer den eingebildeten Kranken und der andere den eingebildeten Doktor spielte. Lachend war ich davon. Mit dem festen Versprechen, Old Delhi nicht aus den Augen zu verlieren. Denn jeder Reisende wird an diesem Ort belohnt. Er muss sich nur trauen, in die Hölle, in den Himmel.

    DIE MITTERNACHTSTAUFE
    »Let me save you!«, gellte es herüber. Der Mensch musste mich meinen, da ich gerade Fotos bloßer Frauenbrüste durch die Schaufenster eines Sexshops betrachtete. Es gellte ein zweites Mal, dringlicher. Ich drehte mich um und sah auf dem Bürgersteig gegenüber einen schwarzen Gottesmann stehen, direkt im Schein einer Straßenlampe. Die breite Goldkette über der breiten Brust, breitbeinig, die hochgestreckte Bibel. Der Typ verströmte ein bravouröses Selbstvertrauen.
    Tatzeit: Kurz nach Mitternacht. Tatort: Marathon, die Business City auf halbem Weg zwischen Miami und Key West. Ich eilte zu ihm hinüber, verlangte es mich doch jäh nach
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